Oberhausen. Selten ist hier eine internationale Wahl so gespannt erwartet worden. In Oberhausen debattieren nicht nur viele Zuwanderer über die Türkei.
- Oberhausener Lokalpolitiker aus Familien mit türkischer Zuwandergeschichte reden Klartext über die Auswirkungen der Türkei-Wahl.
- Erdoğans Politik spaltet nicht nur die Zuwanderer-Familien in Oberhausen, sondern auch viele andere gesellschaftspolitisch interessierte Bürger.
- Besonders in der Kritik stehen Deutsche aus türkisch-stämmigen Familien der dritten oder vierten Generation, die sich politisch mehr mit der Türkei beschäftigen als mit ihrer Heimat Deutschland. Besonders ein Oberhausener Lokalpolitiker äußert sich hier deutlich.
An diesem Sonntag, am 14. Mai 2023, finden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in der Türkei statt. Die Abstimmung ist besonders brisant, weil Machthaber Recep Tayyip Erdoğan nach 20 Jahren im Amt um seine Wiederwahl bangen muss. Auch in der türkischen Community in Deutschland steigt die Spannung. Denn auch hier spaltet der autokratisch regierende Machthaber die Gemüter. Deutschlandweit sind rund 1,5 Millionen Deutsch-Türken wahlberechtigt, in Oberhausen sind es laut Kommunalem Integrationszentrum rund 9400 Personen.
Wir haben drei Kommunalpolitiker mit Wurzeln in der Türkei gefragt, wie sie die Stimmung vor dieser als Schicksalswahl bezeichneten Entscheidung wahrnehmen – und was sie vom bisherigen Wahlverhalten der Deutsch-Türken halten.
„Mir wäre es lieber, wenn Deutsch-Türken sich um deutsche politische Belange kümmern und sich für diese einsetzen würden“, sagt Saadettin Tüzün (51), Mitglied des CDU-Kreisvorstands, über die in der Türkei wahlberechtigten Oberhausener, die sich derzeit teils stundenlang in Hunderte Meter lange Schlangen vor Konsulaten einreihen, wo sie noch bis zum vergangenen Dienstag (9. Mai) ihre Stimme abgeben konnten. Von überall wurde ein großer Andrang gemeldet, die Beteiligung ist diesmal enorm groß. „Die eigene Innenstadt sollte aber wichtiger sein, als die Politik in einem Land, das 3000 Kilometer entfernt liegt“, findet der Lokalpolitiker.
Moscheen haben Deutsch-Türken aufgerufen, zur Wahl zu gehen. Heimlicher Wahlkampf?
Doch dass die emotionale Verbindung zu dem Land, das ja nur für die erste Generation der Einwanderer noch Heimat war, groß ist, das weiß auch Saadettin Tüzün. Es seien bereits Gruppen von Wahlberechtigten in Kolonne Richtung Konsulat in Düsseldorf oder Grugahalle in Essen gefahren. Die Moscheen hätten ebenfalls dazu aufgerufen, vom Stimmrecht Gebrauch zu machen und teilweise Busse gemietet, um älteren Gemeindemitgliedern die Wahl zu ermöglichen. „Der Ramadan wurde dazu genutzt, um Wähler zu mobilisieren“, hat der CDU-Mann beobachtet. Während des Fastenmonats besuchen gläubige Muslime besonders häufig ihr Gotteshaus.
„Wir müssen uns alle die Frage stellen“, sagt Tüzün, „ob wir genug dafür tun, eine Bindung zu dem Land herzustellen, in dem diese Menschen leben.“ Als Vater bekomme er mit, dass insbesondere Jugendliche abdriften, dass sie eher die Namen von politischen Entscheidungsträgern in der Türkei kennen als den des NRW-Ministerpräsidenten. Tüzün: „Sie fühlen sich hier nicht angenommen.“ Demgegenüber verstehe es die türkische Politik sehr gut, den Auslands-Türken auf allen Kanälen zu vermitteln: Du gehörst zu uns.“
SPD sieht großes Interesse der Deutsch-Türken an dieser Wahl: Viele haben Erdoğan satt
Von einer extrem hohen Wahlbeteiligung geht auch Bülent Şahin (47) bei dieser Wahl aus, der für die SPD im Stadtrat sitzt. Es gebe ein sehr großes Interesse bei den Oberhausener Deutsch-Türken, insbesondere die alevitischen Gemeinden hätten sich in großer Anzahl mit Bussen zu Wahlstellen aufgemacht. Kein unwichtiges Detail: Der Herausforderer des Präsidenten ist selbst Angehöriger dieser religiösen Minderheit. „Viele haben Erdoğan satt“, ist Şahins Eindruck.
Dies gelte nicht nur für die Inlands-Türken, die unter der Wirtschaftskrise, der Arbeitslosigkeit, dem dramatischen Verfall der Währung und den Folgen der Erdbebenkatastrophe leiden. Auch für die vielen Aleviten und Kurden, die in der Türkei unterdrückt und verfolgt wurden und in Deutschland Schutz gefunden haben, sei diese Wahl von großer Bedeutung.
„Natürlich wünsche ich mir ein stärkeres Engagement der Deutsch-Türken für die Politik in Deutschland“, sagt auch Bülent Şahin. Aber er habe Verständnis dafür, dass sie sich wünschen, „dass es ihren Verwandten besser geht, dass politische Gefangene freikommen, dass die Demokratie wieder hergestellt wird“. Er selbst würde eine Wahl von Erdoğan-Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu befürworten: „Ich bin Sozialdemokrat und freue mich, wenn Sozialdemokraten an die Macht kommen.“
Warum sollen eigentlich Oberhausener über das Schicksal der Regierung eines anderen Landes mitentscheiden?
„Erdoğan steht für Spaltung“, sagt Yusuf Karaçelik (59) unumwunden. Der Ratsherr für die Linke Liste hat große Hoffnungen, dass diese Politik bald ein Ende haben wird. Als Schwesterpartei der HDP, der prokurdischen linken Partei, die ebenfalls hinter Kılıçdaroğlu steht, habe die Linke Liste eine klare Position – auch zum bisherigen Wahlverhalten der Türken in Deutschland, die traditionell die Erdoğan-Partei AKP stark unterstützen. „Die Ditib-Moscheegemeinden unterstützen diese Politik – und sie sind eine Macht. Sie mobilisieren die Menschen sehr stark“, sagt er. Aber diesmal, meint Karaçelik, werde es anders sein. Es gebe eine breite Opposition, die diesen „Autokraten und Despoten“ abwählen wolle.
In Deutschland distanziere sich die dritte und vierte Einwanderergeneration seiner Meinung nach inzwischen von der Politik in der Türkei. „Das interessiert sie nicht mehr so sehr, sondern mehr, was in Deutschland passiert. Das ist auch richtig.“
Überhaupt, meint Karaçelik, sollte man davon wegkommen, dass die, die hier leben, mitentscheiden dürfen in einem anderen Land: „Die Menschen in der Türkei sind darüber nicht glücklich.“ Karaçelik wird bald Gelegenheit dazu haben, auch darüber mit ihnen ins Gespräch zu kommen: Er reist am Wochenende in die Türkei und wird zusammen mit oppositionellen Politikern vor Ort in der südostanatolischen Stadt Şırnak die Wahl beobachten.
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