Oberhausen. Häuser in Trümmern, verzweifelte Menschen: Viel Leid begegnete den Mitgliedern der Alevitischen Gemeinde Alt-Oberhausen im Katastrophengebiet.

Gleich nach den verheerenden Erdbeben in Syrien und der Türkei Anfang Februar sammelten auch die Mitglieder der Alevitischen Gemeinde Alt-Oberhausen Geld- und Sachspenden (wir berichteten). Von Anfang an haben sie ihre Skepsis gegenüber der staatlichen Katastrophenhilfe in der Türkei geäußert. Sie wollten selbst entscheiden, wo und wie die Kleidung, Decken, Windeln, Schnuller und Babynahrung verteilt werden. Und auch das Geld, das großzügige Spender ihnen anvertraut hatten. Kurzerhand sind deshalb die Vereinsvorsitzende Sevgi Keleş und das Vorstandsmitglied Derya Imer gemeinsam mit dem Geistlichen ihrer Gemeinde in die Türkei geflogen. Nach sechs Tagen und 3000 Kilometern im Mietwagen sind sie nun zurück – mit herzzerreißenden Eindrücken, die sie bestimmt noch lange Zeit verfolgen werden.

Es war nicht geplant, aber irgendwie hat es sich vor Ort so ergeben, dass die beiden Frauen unterschiedliche Rollen eingenommen haben. „Derya hat sehr viel geweint, ich habe es unterdrückt“, erzählt Sevgi Keleş bei Kaffee und Puddingteilchen in dem luftig-hellen Gemeindesaal mit den bunten Fenstern an der Rombacherstraße. Bei den Berichten der Alevitinnen fällt es schwer, einen Bissen herunter zu bekommen. Als sie wieder zurück waren, bei ihren Familien, in ihrem warmen, sicheren Zuhause, da habe sie ihren Tränen freien Lauf gelassen, sagt die 48-Jährige. Es waren sehr viele.

Von Oberhausen ins Erdbebengebiet – mit 43.000 Euro im Gepäck

Begonnen hat das Trio seine Hilfsaktion in der türkischen Hauptstadt Ankara. Dort sind sie hingeflogen, mit 43.000 Euro im Gepäck und zig Telefonnummern im Handyspeicher. Vor allen Dingen waren es die Kontakte jener Männer, die in Oberhausen mit all den Spenden losgefahren waren. Mit Sachen, „die nicht nur unsere Gemeindemitglieder vorbeigebracht haben“ – darauf legt Sevgi Keleş großen Wert. Aus ganz Oberhausen hätten Menschen Mitgefühl gezeigt. „Wir sind allen sehr dankbar.“

Ein schrecklicher Anblick waren die vielen zerstörten Gebäude. Derya Imer und Sevgi Keleş von der Alevitischen Gemeinde Alt-Oberhausen haben im türkischen Erdbebengebiet viel Zerstörung gesehen und Menschen in größter Not getroffen. Doch die vielen ehrenamtlichen Helfer haben ihnen Zuversicht gegeben.
Ein schrecklicher Anblick waren die vielen zerstörten Gebäude. Derya Imer und Sevgi Keleş von der Alevitischen Gemeinde Alt-Oberhausen haben im türkischen Erdbebengebiet viel Zerstörung gesehen und Menschen in größter Not getroffen. Doch die vielen ehrenamtlichen Helfer haben ihnen Zuversicht gegeben. © FUNKE Foto Services | Lars Fröhlich

Bis zum Tag ihrer Abreise hatten auch sie die Folgen der ersten Beben und vielen Folgebeben nur auf dem Fernsehbildschirm verfolgt. Wie würde es nun sein, alles mit eigenen Augen zu sehen? „Wir hatten große Ängste“, sagt Sevgi Keleş. Nicht nur vor der harten Realität eingestürzter Gebäude und traumatisierter Menschen. Sie hätten sich auch gefragt, ob es ihnen gelingt, Zelte in ausreichender Menge zu besorgen, die notwendigen Papiere für die Lkw und Sprinter zu besorgen, um selbst die Spenden verteilen zu können. Es ist ihnen alles gelungen. Was an ein Wunder grenzt, wenn man die Berichte über die teilweise chaotischen Zustände liest. Wucher, Korruption, Plünderungen, Kindesentführungen – zu der Naturkatastrophe sind auch von Menschen gemachte Schrecken hinzugekommen.

Zerstörte Gebäude, Obdachlose und eine „Geisterstadt“

Tatsächlich war der Markt für isolierte Winterzelte in Ankara leer gefegt. Einer ihrer Fahrer, der in Kayseri lebt, konnte dann 150 Stück besorgen. Es war ein erster, aber bedeutender Erfolg. Sie würden auf ihrer Tour durch mehrere südostanatolische Städte auf viele verzweifelte obdachlose Menschen treffen.

Nach einer Spendenübergabe in Malatya, wo ein schweres Nachbeben erneut Gebäude zum Einstürzen gebracht hatte, kamen sie in Maraş, hundert Kilometer vor der syrischen Grenze, in eine „Geisterstadt“, wie sie es beschreiben. Nur wenige Familien und ein paar Schaulustige, mehr hätte es dort nicht mehr gegeben.

Weiter ging es in die Provinz Hatay, deren Hauptstadt Antakya vom Erdbeben zerstört wurde, nach Pazarcık, wo das Epizentrum lag. Überall trafen sie auf Ehrenamtliche aus dem gesamten Land. „Wir haben wundervolle Menschen kennengelernt“, sagt Sevgi Keleş. Sie ließen Geld, Zelte und palettenweise Nahrungsmittel, die sie selbst einkauften, überall dort, wo sie Vertrauen fassten. „Es war uns egal, ob das auch Aleviten waren“, sagt Keleş,. „Wir haben geschaut, wer ehrlich hilft und keine Unterschiede macht.“ Denn dies sei nicht selbstverständlich. „In Antakya und Hatay kam viel zu wenig Hilfe an.“ Dies hätten sie mit eigenen Augen gesehen und von den Menschen dort erfahren. Es gibt große Kritik am Krisenmanagement der Regierung Erdogan. Dort, wo viele Minderheiten leben, Araber, Kurden, Syrer, sei nur schleppend oder überhaupt keine staatliche Hilfe angekommen.

Erdbeben in der Türkei: Hilferufe unter Trümmern

In diesen kleinen Städten und Dörfern hörten die Oberhausener auch die grausamsten Geschichten. Von Hilferufen unter den Trümmern, dem Flehen, man möge sich wenigstens dazusetzen, damit der Tod nicht einsam ertragen werden muss. Kaum vorstellbare Szenen, die auch bei den drei Helfern Spuren hinterlassen haben. Wie das Massengrab, an dem sie vorbeifuhren, fassungslos. Dennoch bereuen die beiden zweifachen Mütter ihre Aktion nicht. „Ich hätte noch länger bleiben können“, sagt Sevgi Keleş. Denn sie hat gesehen: Die Arbeit ist noch lange nicht getan.