Oberhausen. Sogar eine Wirtschaftskrise ändert nichts: Auf dem Arbeitsmarkt fehlen dauerhaft unzählige Arbeitskräfte. Die Arbeitsagentur hat Lösungsideen.

Da mag kommen, was will – Pandemie, Cyberangriffe oder Ukraine-Krieg. Wenn man in den vergangenen Monaten Unternehmer oder Firmenvertreter getroffen hat, dann hob ein ungewöhnliches Wehklagen an: Man suche dringend geeignete Kräfte, man habe so viel Arbeit und so viele Stellen zu besetzen, doch trotz aller Anstrengung finde man keine neuen Beschäftigten mehr in ausreichender Zahl. „Schick mir jemanden vorbei, ich mach dann schon was aus ihm“, fordern Betriebsinhaber und Personaler Jürgen Koch ungefragt auf. Der Chef der Oberhausener Arbeitsagentur blickt zwar in der Statistik auf über 15.000 Arbeitslose und Unterbeschäftigte im Stadtgebiet, aber dennoch passen Köpfe und offene Stellen nicht zusammen.

Selbst für scheinbar einfache Helfer-Jobs, wie die mittlerweile als Beispiel berühmten Kofferträger am Düsseldorfer Flughafen, benötigt man Menschen mit einem hohen Verantwortungsbewusstsein, extremer Schichtdienst-Belastbarkeit und Mobilitätsfähigkeit – bei nicht unbedingt üppiger Bezahlung. Und erst recht im Einzelhandel als Verkäufer oder im Gastro-Bereich als Kellner sind wichtige Basisqualifikationen gefragt: „Zuverlässigkeit, Hygiene, Motivation, Belastbarkeit, Umgangsformen – hier haben wir bei vielen Langzeitarbeitslosen eine Menge Baustellen“, beobachtet Koch. „Das Matching passt einfach nicht.“

Langzeitarbeitslosen fehlt zu 70 Prozent eine Berufsausbildung

Das zeigt sich durchaus in den Zahlen: Oberhausener Langzeitarbeitslose sind zu einem erheblichen Teil nicht gut genug qualifiziert, knapp 70 Prozent haben keine abgeschlossene Berufsausbildung. Deshalb sucht mehr als die Hälfte von ihnen nur einen Helfer-Job. Doch so viele einfache Jobs gibt es auch nicht, denn die meisten Firmen benötigen heutzutage anständig qualifizierte Kräfte – für 76 Prozent der offenen Stellen muss der neue Arbeitnehmer mindestens das Niveau einer Fachkraft mitbringen.

Jürgen Koch ist seit 2014 Leiter der Arbeitsagentur Oberhausen/Mülheim – und beobachtet seitdem den Arbeitsmarkt in beiden Städten intensiv.
Jürgen Koch ist seit 2014 Leiter der Arbeitsagentur Oberhausen/Mülheim – und beobachtet seitdem den Arbeitsmarkt in beiden Städten intensiv. © FUNKE Foto Services | Martin Möller

Trotz der Multi-Krisen läuft die Wirtschaft so munter, dass die Unternehmen in Oberhausen immer mehr Menschen beschäftigen – über 70.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte bedeutet in diesem Jahrhundert Rekordniveau. Viele Wirtschaftsforscher erwarten in diesem und wohl auch zu Beginn des nächsten Jahres allerdings eine Verschlechterung der Wirtschaftslage – verstummen dann die Fachkräftemangel-Klagen?

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Nein, auf keinen Fall, ist sich der Arbeitsagentur-Chef sehr sicher. Denn der Mangel an fähigen Arbeitskräften ist strukturell für viele nächste Jahre Gewissheit. „Eine Wirtschaftskrise würde die Not ein wenig hinausschieben, doch die Not bleibt und gewinnt im nächsten Wirtschaftsaufschwung noch an Größe.“ Und das bedeutet: Die fehlenden Fachkräfte behindern das Wachstum, Firmen können den Aufschwung nicht voll ausschöpfen, die Gesellschaft büßt an Wohlstandszuwachs ein.

Oberhausener Bevölkerung überaltert

Und dies gilt nach den Zahlen der Bundesarbeitsagentur insbesondere für Oberhausen: Denn die Überalterung der Bevölkerung ist in der 209.000-Einwohner-Stadt schon weit fortgeschritten: In den nächsten fünf Jahren werden knapp zehn Prozent der Oberhausener Beschäftigten 65 Jahre alt. Zum Vergleich: In Düsseldorf und Dortmund liegt diese Quote fast zwei Prozentpunkte niedriger – bei gut acht Prozent. Weil auch noch weniger jüngere Menschen aus Schulen und Universitäten nachrücken, sinkt die Zahl der erwerbsfähigen Bevölkerung in den nächsten 30 Jahren um rund elf Prozent. Zum Vergleich: In Mülheim beläuft sich das Minus nur auf 6,2 Prozent.

Die Automatisierung ganzer Berufsfelder schreitet voran – sahen die Arbeitsmarktexperten dadurch vor allem die Gefahr für Zehntausende Jobs, sehen sie nun verstärkt die Chancen: Digitalisierung sorgt dafür, dass Menschen von Routine-Arbeiten entlastet werden, um sich anspruchsvolleren Aufgaben zu widmen. Im Bild: Pflegeroboter zur Unterhaltung.
Die Automatisierung ganzer Berufsfelder schreitet voran – sahen die Arbeitsmarktexperten dadurch vor allem die Gefahr für Zehntausende Jobs, sehen sie nun verstärkt die Chancen: Digitalisierung sorgt dafür, dass Menschen von Routine-Arbeiten entlastet werden, um sich anspruchsvolleren Aufgaben zu widmen. Im Bild: Pflegeroboter zur Unterhaltung. © Funke Foto Service | Gerd Wallhorn

Wenn eine Stadt, eine Region, ein Land auch in Zukunft wirtschaftsstark sein will, ist es nach Ansicht des Arbeitsmarktexperten Koch unabdingbar, sich intensiv um das Personalkräfte-Problem zu kümmern. „Dabei betrachten wir Automatisierung nicht mehr so wie früher als Gefahr für den Arbeitsmarkt, sondern als Chance für Wirtschaftswachstum.“ Digitalisierung sorgt dafür, dass Menschen von Routine-Arbeiten entlastet werden, um sich anspruchsvolleren Aufgaben zu widmen. Die Kernarbeit von immerhin einem Drittel der Beschäftigten in Oberhausen könne nach der Analyse durch Automatisierung zu 70 Prozent ersetzt werden – etwa Fertigungsberufe. Gleichzeitig erfordert die Digitalisierung ein höheres Qualifikationsniveau der Beschäftigten.

Oberhausen benötigt dringend mehr Zuwanderer

Angesichts der Zahlen der Arbeitsagentur schlussfolgert Koch: „Ohne Zuwanderung sehen wir alt aus. Wir brauchen die Leute hier, um den Wohlstand zu sichern.“ Deutschland benötigt 400.000 Zuwanderer Jahr für Jahr, um nicht wirtschaftlich abzusacken. Der Agentur-Geschäftsführer räumt zwar ein, dass in der deutschen Gesellschaft eine gewisse Müdigkeit auszumachen ist, noch mehr Zuwanderer zu integrieren. Doch: „Über weite Strecken haben wir in den vergangenen Jahren Menschen in Not geholfen. Jetzt suchen wir die Menschen, die uns mit ihren Fähigkeiten helfen. Denen müssen wir was bieten, damit sie mit ihren Familien hier leben wollen.“

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Den Fachkräftemangel abmildern – das muss man zusätzlich noch durch andere Korrekturen. Unterschätzt wird dabei nach Ansicht der Arbeitsagentur die Bedeutung der „stillen Reserve“. Das sind Menschen, die durch Kinderbetreuung, Pflege von Älteren, ungünstige Arbeitszeiten, schlechte Arbeitsbedingungen oder auskömmliche finanzielle Sicherheit etwa durch Erbschaften, derzeit nicht berufstätig sind. „Hier haben wir noch ein großes Potenzial, wenn Arbeitgeber die Rahmenbedingungen verbessern – dann sind diese Menschen auch bereit, Jobs anzunehmen.“

Worüber sich Koch ausschweigt, ist eine Lösung, über die – angeregt durch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) – bundesweit schon diskutiert wird: Man erlaubt den geburtenstarken und nachfolgenden Jahrgängen erst einen späteren Renteneintritt als heute mit 63 Jahren.