Essen. Still und traurigschön: Mit „Mittagsstunde“ inszeniert Lars Jessen einen Roman von Dörte Hansen. Ein Großstädter kehrt zurück aufs platte Land.
Die Hecken sind verschwunden und mit ihnen die Vögel, anstatt der Vielfalt von früher wächst überall nur Mais. Dafür sind die Straßen breiter geworden. Als Ingwer (Charly Hübner) in sein Heimatdorf Brinkebüll ins tiefste Nordfriesland zurückkehrt, hat sich dort einiges verändert.
Der kauzige Dozent hat sich an der Universität Kiel ein Sabbatjahr genommen, um seine Großeltern zu pflegen, die er liebevoll „Vadder“ und „Mudder“ nennt. Die beiden alten Leutchen werden zusehends gebrechlicher, Großmutter Ella hat den Kontakt zur Realität fast ganz verloren. Ingwer krempelt die Ärmel hoch und packt mit an.
In seinem neuen Film „Mittagsstunde“ erzählt Lars Jessen anschaulich vom langsamen Sterben der Dörfer, Vorlage ist der gleichnamige Roman von Dörte Hansen („Altes Land“). Jetzt ist der Selbstfindungstrip eines Großstädters mit einem hervorragenden Charly Hübner im Kino zu sehen.
„Mittagsstunde“ zeichnet ein karges, aber auch liebevolles Bild von Nordfriesland
Es ist ein karges, aber auch ein liebevolles Bild, das von Nordfriesland gezeichnet wird. Die Bestsellerautorin Dörte Hansen, selbst in Husum geboren, beschreibt ihre Heimat wunderbar anschaulich – Regisseur Jessen hat das Leben auf dem Land kongenial in Szene gesetzt. Nichts als Felder und darüber der Himmel. Es wird viel Platt gesprochen in Brinkebüll, was dankenswerterweise mit Untertiteln versehen wurde.
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In Ingwers Leben geht gerade einiges durcheinander; in Kiel lebt er in einer Dreier-Beziehung, die nicht recht funktionieren will. So nimmt er die Herausforderung gern an, als er hört, dass seine „Olen“ allein nicht mehr klarkommen. Als junger Mann hat er das Dorf verlassen, Großvater Sönke nimmt es ihm immer noch übel, dass er den Gasthof der Familie nicht übernommen hat, sondern sich für ein Studium in der Stadt entschied. Bis heute weigert sich „Vadder“, sich von seinem „Krug“ zu trennen. Inzwischen wird im Festsaal nur noch Linedance geübt. Wer in Brinkebüll noch auf den Beinen ist, schwingt hier den Cowboyhut.
Alter und Zerbrechlichkeit werden begreifbar
Seit der Flurbereinigung in den 70er Jahren ist alles immer mehr verödet: Die alte Dorfeiche ist nicht mehr, der Tante-Emma-Laden hat geschlossen. Ingwer versucht trotzdem, anzukommen. Er hilft bei der Pflege seiner Großmutter. Und versucht, sich mit dem „Vadder“ auszusöhnen. Doch der alte Herr ist störrisch. Sein einziger Lichtblick ist die Gnadenhochzeit mit seiner Ella, der er entgegenfiebert: Bis zu diesem Termin will er unbedingt noch durchhalten.
In Rückblenden wird die Familiengeschichte der Feddersens erzählt, Gabriela Maria Schmeide und Rainer Bock spielen die beiden „Olen“ in der jungen Version. Eine wichtige Rolle nimmt hier die geistig zurückgebliebene Marret (Gro Swantje Kohlhof) ein. Eine kindlich verspielte junge Frau, die heimlich raucht, auf Dorffesten Schlager trällert – und eines Tages spurlos verschwindet.
Charly Hübner schafft es, die allgemeine Tristesse auszugleichen
„Mittagsstunde“ ist ein ruhiger, schöner Film. Aber er ist auch schwermütig. Wäre da nicht Charly Hübner, der es schafft, die allgemeine Tristesse immer wieder auszugleichen. Seine robuste, kernige, stoische Art und sein trockener Humor sorgen für eine wohltuende Distanz zur großen Melancholie. Unbedingt sehenswert sind auch Hildegard Schmahl und Peter Franke als Ella und Sönke Feddersen. Beiden gelingt es meisterhaft, Alter und Zerbrechlichkeit begreifbar zumachen, ohne dabei in Rührseligkeit zu versinken.
Es endet mit einer Überraschung für Ingwer. Und so wird der Aufenthalt auf dem platten Land am Schluss unweigerlich zu einer Reise zu sich selbst. „So ein Kuddelmuddel mit uns“, stellt er lakonisch fest. Typisch norddeutsch ist auch das. Wenig sprechen, alles sagen.