Oberhausen. Sechs Orte mit literarischem Bezug zur Industriekultur im Oberhausener Norden standen auf dem Programm der dritten literaturkundlichen Radtour.
Sechs Orten rund um die St.-Antony-Hütte in Osterfeld, der Wiege der Ruhrindustrie, galt die dritte „LiteRadTour“. Dazu machten sich nun rund 20 Interessierte mit Rainer Piecha vom Literaturhaus Oberhausen auf Fahrrädern auf den Weg. An diesen Orten versuchte der Literaturfreund, durch kurze Textauszüge künstlerisch Bezug zum Ruhrgebiet herzustellen. Ganz nebenbei verdeutlichte die dreistündige Radtour, welch landschaftliche Reize der Norden Oberhausens dem Ausflügler zu bieten hat.
Rückkehr aus Italien
Ausgangspunkt war ein Ort, der heute gar nicht mehr an den Kohlenpott erinnert: der Volksgolfplatz Jacobi in Klosterhardt. Wo seit rund 20 Jahren dem feinen Rasenspiel nachgegangen wird, herrschte von 1912 bis 1974 Zechenbetrieb. Hier rief Piecha den bescheidenen Wohlstand in Erinnerung, den sich die Menschen im Ruhrgebiet nach dem Zweiten Weltkrieg erarbeitet hatten. Als Zeugen dafür benannte er den Kölner Schriftsteller Heinrich Böll. Der hatte 1958 („Heimat“) von der Rückkehr eines jungen Ehepaars im Kleinwagen vom Camping-Urlaub am Mittelmeer berichtet.
Auf einer Ruhrbrücke ließ die junge Frau den Wagen anhalten, um kurz auszusteigen. „Was war denn los?“, fragte der Mann am Steuer nachher. „Oh, nichts“, sagte die Frau. „Ich wollte nur riechen, ob wir wirklich zu Hause sind.“ Hier fange der Lichtwechsel an, schmecke die Luft bitter, würden die Häuser dunkel und die Leute wieder ihre Sprache sprechen. Und das alles wollte sie dann doch nicht mit Italien tauschen.
Eine Winterwanderung
Unweit davon entfernt, vor der Jacobischule, machte Gudrun Wermert-Heetderks anhand eines Textes von Josef Büscher deutlich, dass nicht immer von bescheidenem Wohlstand die Rede sein konnte. Büscher war selbst dort zur Schule gegangen und beschrieb in „Die barmherzige Linsensuppe“ einen kalten Wintertag im Jahre 1928. Das Schulgebäude ließ sich nicht richtig heizen. Deshalb wurde kurzerhand eine Winterwanderung unternommen. Nur fehlte den Kindern dafür die geeignete Winterbekleidung. Büschers Vater konnte nach einem Unfall auf der Zeche nicht mehr arbeiten. Bei einer warmen Linsensuppe tauten er und seine Geschwister daheim wieder langsam auf.
Durch das Tal des Mühlbachs in Rothebusch und den Olga-Park ging es zur Siedlung Eisenheim. Vor einer Motorradwerkstatt an der Fuldastraße rief Hartmut Kowsky-Kawelke das frühere Atelier des Künstlers Walter Kurowski in Erinnerung, der 2017 starb. Er verlieh dessen Tochter, der Jazzsängerin Eva Kurowski, seine Stimme, zitierte aus ihrer Erzählung „Avanti Popoloch“ von 2008 und gab damit Kostproben vom derben Charme der Ruhrgebietler. Denn das anfangs dickliche Mädchen erhielt den wenig schmeichelhaften Spitznamen „Kawenzmann“.
Mit nüchternem Blick
Über den Radweg mit dem Namen Richard-Wagner-Allee gelangte der Fahrradtross ins Zentrum von Sterkrade. Dort trug Jürgen Michaelis die schnörkellose Beschreibung von Florian Neuner („Ruhrtext - eine Revierlektüre“, 2010) vor, was das Ruhrgebiet auch ausmacht: eine nüchterne Aneinanderreihung von Gewerbe-, Wohn- und Verkehrsflächen, künstlich gewachsen eben, um möglichst viel auf wenig Raum unterzubringen.
Wo die Gruppe schon einmal dabei war, den Mythos Ruhrgebiet zu entzaubern, durfte vor der Kulisse des alten Freiherr-vom-Stein-Gymnasiums an der Wilhelmstraße nicht fehlen, wie Winand Herzog in seinem historischen Roman „unRuhe“ das dortige Schulleben im Jahre 1966 beschrieb: als Zwangsgemeinschaft, in der sich sein Romanheld Almansor einen Machtkampf mit Studienrat Deterding liefert.
Was Gastarbeiter so mitbringen
Die Radfahrer ließen auf ihrem anschließenden Weg durch das Reinersbachtal nicht nur Sterkrade-Mitte wieder hinter sich, da entfuhr es Rainer Piecha in der Landschaft der Sterkrader Heide, „früher sah das hier überall so aus“, bevor alles zugebaut wurde. Piecha steuerte die Arbeitersiedlung an der Flöz-Matthias-Straße an. Auf ihrem Spielplatz trug Hartmut Kowsky-Kawelke einen Auszug aus Ralf Rothmanns Erzählung „Milch und Kohle“ von 2002 vor. Sie berichtet von der Hausfrau, deren Küche anfangs zu ihrem Entsetzen von einigen Gastarbeitern in Beschlag genommen wird. Bald darauf aber begeistern sie sie nicht nur mit ihren mediterranen Speisen. Der Autor hat seine Kindheit in der Siedlung verbracht.
Natürlich durfte auch ein Abstecher durch das malerische Elpenbachtal zur St.-Antony-Hütte nicht fehlen, ehe die Gruppe wieder den Ausgangspunkt erreichte.
Der Verein Literaturhaus Oberhausen
Seit Frühjahr 2017 hat der Verein Literaturhaus Oberhausen in einem früheren Ladenlokal an der oberen Marktstraße, neben der Weinlounge Le Baron, sein Domizil. Dort gibt es nicht nur eine Bibliothek mit rund 6000 Bänden. Bei regelmäßigen Lesungen und Diskussionen kommen auch Autoren und andere prominente Zeitgenossen zu Wort. 2019 vergab der Verein erstmals einen Jugend-Literaturpreis.
Die nächste Autorenlesung ist am Freitag, 14. August, 19 Uhr, geplant. Anna Basener liest aus ihrem Roman „Schund und Sühne“ vor.