Oberhausen. Autoren der Geschichtswerkstatt Oberhausen kosten rheinhessischen „St. Antony“-Tropfen und erinnern an die 102-jährige Tradition der Glasfabrik.

Während Fotokünstler Patrick Lohse und das Kunsthaus Mitte mit ihrem Projekt „Stadt/Archiv“ eine Auseinandersetzung um „belastete“ Straßennamen anstiften wollen, beleuchtet Oberhausens Geschichtsjournal „Schichtwechsel“ mit seinem neuen Heft auf ganz andere Art den übermächtigen Schatten des langjährigen GHH-Bosses Paul Reusch: Autor Klaus Offergeld kredenzt auf immerhin sechs launigen Heftseiten „Eine Geschichte voller edler Tropfen“, so die Schlagzeile.

Hier pflegten die GHH-Oberen die Gastlichkeit: Im Werksgasthaus gab’s auch den „St. Antony“-Wein aus Rheinhessen.
Hier pflegten die GHH-Oberen die Gastlichkeit: Im Werksgasthaus gab’s auch den „St. Antony“-Wein aus Rheinhessen. © FUNKE/Fotoservices | Gerd Wallhorn

Denn Paul Reusch wirkte nicht nur 33 Jahre als Vorstandsvorsitzender der Gutehoffnungshütte, zudem als Verleger etlicher Zeitungstitel und als Mächtiger im Kreis der großindustriellen „Ruhrbarone“: Zum GHH-Imperium zählte bereits seit 1914 auch ein Weingut im rheinhessischen Nierstein. Die Rebstöcke auf bestens geeignetem Kalksteinboden standen eigentlich auf einer „Reservefläche“ für einen künftigen Kalksteinbruch – günstig gelegen, um das Material stracks zum GHH-Hafen nach Walsum zu verschiffen.

Der „Schattenmann“ des Industriellen im Reichstag

Klaus Offergelds in jeder Hinsicht süffige Spurensuche zum Weingut „St. Antony“ stützt sich auf das immerhin 256 Seiten starke Buch des FAZ-Journalisten Daniel Deckers: „Der Wein der Gutehoffnungshütte“.

Eine weitaus kritischer zu goutierende Rolle in der tragischen Geschichte der Weimarer Republik spielte Paul Reuschs „Schattenmann“ Erich von Gilsa. Unter der dramatischen Schlagzeile „Im Auge des Zyklons“ skizzieren Bodo Herzog und Thomas Pawlowski die Biografie des aus Schwerin stammenden Sterkrader DVP-Abgeordneten, der im Reichstag nicht eine einzige Rede gehalten hatte – doch seinem Boss Reusch alle Informationen aus dem Parlament zutrug. „Augenscheinlich ein recht geschickter Politiker“, konstatierte knapp der Historiker Volker Berghahn über den einstigen Karriereoffizier, der Militaristen verdächtig war „als Partner der Sozialdemokratie; anderen galt er als Rechtsradikaler“.

Schülerinnen des Bertha von Suttner-Gymnasium legen am 17. März Rosen zu den Stolpersteinen für die Holtener Familie Wolf.
Schülerinnen des Bertha von Suttner-Gymnasium legen am 17. März Rosen zu den Stolpersteinen für die Holtener Familie Wolf. © FUNKE/Fotoservices | Gerd Wallhorn

Der NS-Zeitgeschichte widmen sich im neuen „Schichtwechsel“-Heft drei weitere große Artikel auf ganz unterschiedliche Weise: Christoph Strahl beschreibt das multimediale Projekt „Stolpersteine NRW“, das in aufwendigen „Graphic Stories“ von jenen 15.000 Menschen erzählen will, denen Gunter Demnig in Nordrhein-Westfalen seine „Denkmale von unten“ gewidmet hat. In Oberhausen hatte der 77-Jährige erst am 17. März weitere 28 Stolpersteine gesetzt: von Holten bis zur alten Mitte.

Höhere Tochter, angeklagt des Hochverrats

Daneben erzählt Reinhold Hoemann den faszinierenden Lebensweg seiner Tante Ellen Lueg (1905 bis 1986): Die höhere Tochter eines Oberhausener Großindustriellen wurde als junge Frau zur überzeugten Kommunistin – und vom gefürchteten NS-„Volksgerichtshof“ in Berlin wegen Hochverrats angeklagt. Und „Schichtwechsel“-Herausgeber André Wilger würdigt den Styrumer Geistlichen Heinrich Küppers (1896 bis 1955): Nach dem „aufrechten Katholiken“ (so die Schlagzeile) ist der Kaplan-Küppers-Weg benannt – ein ganz und gar unstrittiger Straßenname.

André Wilger widmet auch unter der programmatischen Überschrift „Unverzichtbar für die Stadtgesellschaft“ vier Seiten der bald 60-jährigen Geschichte der Gedenkhalle im Schloss Oberhausen. Oberbürgermeisterin Luise Albertz hatte sie am 2. September 1962 als erste bundesdeutsche Institution mit dieser Bestimmung eingeweiht. Das Kapitel „Stand heute“ mag in diesem historischen Aufriss sehr knapp gehalten sein – doch das Thema Gedenkkultur bleibt ja unerschöpflich.

Kühle Ausstattung, doch „unverzichtbar für die Stadtgesellschaft“: die Gedenkhalle im Schloss Oberhausen mit ihrer 2010 neu gestalteten Dauerausstellung.
Kühle Ausstattung, doch „unverzichtbar für die Stadtgesellschaft“: die Gedenkhalle im Schloss Oberhausen mit ihrer 2010 neu gestalteten Dauerausstellung. © FUNKE Foto Services | Gerd Wallhorn

Dass auch in Oberhausens Industriegeschichte neben Kohle und Stahl noch spannende Aspekte unterbelichtet sind, zeigt im neuen „Schichtwechsel“ eine sechsseitige Fotostrecke mit Ruth Gläsers Aufnahmen aus jener Glasfabrik, die 102 Jahre – von 1877 bis 1979 – an der Duisburger Straße produzierte.

Vom Senfglas bis zum Parfüm-Flakon

Die Fabrik des Carl Becker und seiner Nachkommen produzierte eine breite Produkt-Palette vom Senfglas bis zum feinen Parfüm-Flakon. 1938 zählte sie 700 Mitarbeiter – Höchststand in der Unternehmens-Geschichte. Rund 140 Frauen zählten während der 1940er bis 1960er Jahre zur Belegschaft. Und deren industrielle Arbeitsplätze werden eben in einer auf 170 Jahre Strukturwandel versessenen Stadt gerne mal vergessen.

Das Journal für Geschichtsbewusste kostet 4 Euro, erhältlich in Oberhausener Buchläden oder direkt bei der Geschichtswerkstatt, Hansastraße 20 im Zentrum Altenberg, 0208 307 83 50 oder per Mail an info@geschichtswerkstatt-oberhausen.de.