Oberhausen. Vor 90 Jahren empfing der Vorstandschef der Gutehoffnungshütte an seinem Firmensitz den damaligen Wahlkämpfer für das Amt des Reichspräsidenten.
Das avantgardistische Kunsthaus Mitte, der „Freiraum“ des Grünen-Kreisverbandes und nicht zuletzt das nach Bertolt Brecht benannte Domizil von Volkshochschule und Stadtbibliothek: Sie alle residieren an der Paul-Reusch-Straße – und können eigentlich nicht glücklich sein mit einer solchen Adresse. Denn der Namenspatron war als Vorstandsvorsitzender der Gutehoffnungshütte während der 33 Jahre von 1909 bis 1942 nicht nur der für Oberhausen bedeutendste Industriemagnat. Der Sohn eines schwäbischen Oberbergrates war auch ein willentlicher Helfer beim Aufstieg Adolf Hitlers. Doch in der sozialdemokratisch geprägten „Stadt der guten Hoffnung“ scheint das nur Wenige zu stören.
Vor 90 Jahren, während des Wahlkampfes zur Reichspräsidentenwahl 1932, empfing am 21. Februar Reusch den damaligen Präsidentschaftskandidaten Hitler plus Heinrich Himmler im Büro der GHH-Konzernleitung – und erneut am 19. März. Auf seinem „antirepublikanischen Kurs“, wie der Historiker Heinrich August Winkler in seinem Standardwerk „Weimar – die Geschichte der ersten deutschen Demokratie“ konstatiert, hatte der Ingenieur des Hüttenwesens einen weiten Weg nach rechts zurückgelegt – ohne allerdings zum Parteimitglied der NSDAP zu werden.
Der Gutehoffnungshütte, im Besitz der Familie Haniel, diente der 37-jährige Paul Reusch und stieg in nur vier Jahren zum Vorstandsvorsitzenden auf. Nicht erst als Industrielobbyist während der Weimarer Republik erwuchs ihm Verantwortung weit über die Konzernlenkung hinaus. Denn schon während des Ersten Weltkriegs (Hitler war Gefreiter und Meldegänger beim bayrischen Reserve-Infanterie-Regiment 16) zählte Reusch zum industriellen Beirat der Kriegsrohstoffabteilung, blickte also aus nächster Nähe auf die von den Generälen Hindenburg und Ludendorff installierte Militärdiktatur.
Der Industrielle hielt sich einen Reichstagsabgeordneten
Aus heutiger Sicht mag verblüffen, dass Reusch sich der als liberal geltenden DVP anschloss, die auf ihrem rechten Flügel allerdings auch reaktionäre ostelbische Großagrarier beheimatete. Der Industrielle besaß zwar kein Mandat im Reichstag – konnte sich aber einen DVP-Abgeordneten „halten“. Der „Weimar“-Chronist Winkler nennt Erich von Gilsa als jenen „Vertrauensmann“, der Reusch alle Informationen zutrug und in seinem Sinne zur Abstimmung schritt. In den Jahren der Weltwirtschaftskrise war die DVP-interne Rechtsopposition 15 Parlamentarier stark. Reusch setzte alles ein, um seine Partei aus der letzten großen Koalition mit der SDP zu lösen. Selbst der Münsteraner Heinrich Brüning aus dem katholischen Zentrum war ihm als Reichskanzler (von März 1930 bis Mai 1932) zu lasch.
Das Elend der Massenarbeitslosigkeit beantwortete Paul Reusch in einer gemeinsamen Forderung mit acht weiteren Wirtschaftsführern an Brüning so: „Man muss der Wirtschaft die Fesseln abnehmen und das Wirtschaften nach den ewig gültigen ökonomischen Gesetzen wieder freigeben, damit sie ihre Kräfte entfalten kann. Dann wird sie ganz von selbst immer größere Massen von brachliegenden Arbeitskräften aufsaugen.“ In verächtlicherer Diktion lässt sich gegen „sozialistische“ Instrumente wie die damals äußerst knappe Arbeitslosenunterstützung kaum agitieren.
Reusch amtierte im Präsidium des Reichsverbandes der deutschen Industrie wie im Verwaltungsrat der Bank für internationalen Zahlungsausgleich mit Sitz in Paris, war also ein mächtiger Vielfach-Funktionär. Sozialdemokratische Umtriebe waren ihm derart zuwider, dass er zunehmend sogar gegen den seit 1925 als Reichspräsidenten amtierenden Paul von Hindenburg intrigierte: einen Reaktionär aus dem preußisch-militaristischen Gruselpanoptikum. Schließlich hatte Hindenburg bis zum Beginn von Brünings Kanzlerschaft auch Mitte-links-Koalitionen regieren lassen.
Der modernste und technisch perfekteste Wahlkampf
Zur Begegnung von Paul Reusch mit Hitler und Himmler im GHH-Büro kam es während eines furiosen Wahlkampfs, den Heinrich August Winkler so beschreibt: „Hitler versuchte, Deutschland aus der Luft zu erobern. Mit dem Flugzeug durcheilte der Herausforderer Hindenburgs das Reich, sprach zu Hunderttausenden und erweckte den Eindruck der Allgegenwart.“ Aus Sicht des Historikers war es „der modernste und technisch perfekteste Wahlkampf, den es bis dahin gegeben hatte“.
Für den NSDAP-Kandidaten war Reusch zunächst weniger als Industriemagnat wichtig – sondern als Verleger: Denn dem Schwaben gehörten in Bayern vom „Schwäbischen Kurier“ und „Fränkischen Kurier“ bis zu den „Münchner Neuesten Nachrichten“ eine ganze Reihe von Zeitungstiteln. Laut Winkler und weiterer Historiker versprach DVP-Mitglied Reusch „wohlwollende Neutralität“ in der Berichterstattung.
„Mit Hindenburg für Volk und Reich“
Erstaunlich strittig ist die Quellenlage ein Dreivierteljahr später, als im November 1932 „die Industrie“ eine Eingabe an Hindenburg absetzte, er möge das Kanzleramt an Hitler übertragen: Marxistische Forscher meinen, Reusch habe nachträglich dem Text zugestimmt. US-Historiker Henry Turner dagegen verweist auf Reuschs Unterschrift zu einem Wahlaufruf „Mit Hindenburg für Volk und Reich“. Auf einer Linie liegt die Historikerzunft allerdings mit ihrer Deutung: Wie etliche Rechtsbürgerliche glaubte auch der GHH-Boss „die nationalsozialistische Bewegung an den Staat heranbringen“ zu können – und die brutalen Straßenkämpfer so zu „zähmen“. Ein grässlicher Irrtum.