Oberhausen. Der Pflegenotstand in Altenheimen löst harte Kritik aus. Viele Angehörige reagieren auf unsere Berichte mit schockierenden eigenen Erfahrungen.
Mangelnde Qualität bei gleichzeitig hohen Kosten der Pflege – das sorgt bundesweit, aber zunehmend auch in Oberhausen für Kritik. Der offensichtliche Pflegenotstand empört immer mehr Betroffene. Diesem für so viele Familien wichtigen Thema hatte unsere Redaktion Mitte April 2022 mehrere Berichte gewidmet. Inzwischen erreichten uns viele Reaktionen darauf. Sie zeigen: Es ist nicht nur höchste Zeit für weitreichende Veränderungen in der Pflegefinanzierung, sondern für einen grundlegenden Systemwechsel in der Betreuung alter Menschen. Denn ob es den Seniorinnen und Senioren in einer Einrichtung gut geht, hängt bislang vor allem vom persönlichen Engagement der Leitung und der Mitarbeitenden ab. Hier sind einige anonymisierte Erfahrungsberichte unserer Leserinnen und Leser.
Marie ist eine von drei Töchtern, die ihren Vater schweren Herzens nicht mehr zu Hause versorgen können. Der 84-Jährige leidet an einer Lewy-Body-Demenz. Typische Symptome sind neben einer fortschreitenden Gedächtnis- und Bewegungsstörung auffällig schnelle Schwankungen der geistigen Fähigkeiten. Nach einem langen Klinikaufenthalt konnte der 84-Jährige vor sechs Monaten endlich stationär in einem Pflegeheim im geschützten Bereich für Demenzkranke aufgenommen werden.
„Bei der Aufnahme versicherte man uns, dass diese gerontopsychiatrische Station auch nachts immer besetzt ist“, erzählt die Tochter. Dies sei sehr wichtig: Denn der 84-Jährige hätte einige Wochen zuvor in einer Kurzzeitpflegeeinrichtung ein Fenster öffnen können und habe dort unvermittelt auf dem Dach gestanden. Das Altenheim sei damals erst durch die Polizei darauf aufmerksam gemacht worden. „Ein Nachbar hatte Hilfe herbeigerufen.“
Öffentlicher Aufschrei geplant: Angehörige suchen weitere Betroffene
Deshalb beruhigte es die Töchter, dass die Station im neuen Heim stets besetzt sein sollte. „Doch die Wahrheit sah anders aus, es gibt eine Nachtwache für drei Etagen.“ Mit Folgen wie diesen: „Stundenlanges Liegen nach Stürzen – trotz einer Klingelmatte vor dem Bett.“ Die Familie zeigt zwar Verständnis für die stark unterbesetzten Pflegekräfte, fragt jedoch auch: „Warum darf ein Heim immer noch Menschen aufnehmen, wenn es eine ausreichende Pflege nicht mehr gewährleisten kann?“
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Auch die Eltern von Anita leben seit einem Jahr in einem Altenheim. Sie machte dort die traurige Erfahrung: „Man darf alt werden, aber nicht alt und krank – dann ist man verloren.“ Es zerreiße ihr das Herz, mitansehen zu müssen, „wie lieblos mit meinem kranken Vater umgegangen wird“. Anita will nun in der Stadt, in der ihre Eltern leben, weitere Betroffene suchen, um die Missstände in der Pflegeeinrichtung öffentlich zu machen.
Helga dagegen wünschte, sie hätte bereits ein Altenheim für ihren Bruder gefunden. Dieser sei seit drei Monaten bettlägerig. „Doch da er rund 140 Kilogramm wiegt, wurde er selbst zur Kurzzeitpflege von allen abgelehnt und muss zu Hause versorgt werden.“ Natürlich weiß Helga, dass diese Ablehnung aufgrund des Gewichtes rechtswidrig ist, „aber dieses Wissen hilft uns nicht, wie sollen wir das beweisen?“.
Familie: Alles hängt vom Engagement der Mitarbeitenden ab
Aber es geht auch anders. „Wir möchten unsere hohe Zufriedenheit mit der Einrichtung zum Ausdruck bringen, in der unsere Eltern betreut werden“, betonen die beiden Töchter Andrea und Barbara in einer Mail an die Redaktion. „Das ist aber in erster Linie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu verdanken, sei es an der Rezeption, in Verwaltung, Pflege, Housekeeping, Küche.“ Zufrieden stellen Andrea und Barbara fest, dass in dem Altenheim ihrer Eltern viel Wert darauf gelegt wird, dass alle Bewohnerinnen und Bewohner solange wie möglich ihre Selbstständigkeit und ihren eigenen Lebensrhythmus beibehalten können. „Jeder schläft dort zum Beispiel morgens, solange er möchte.“
In den Wohngruppen gebe es eine zusätzliche Waschmaschine. „Wer seine Wäsche selbst waschen und bügeln kann und möchte, tut das.“ Besucher dürfen die zur Familie gehörenden Haustiere mitbringen. Besonders tröstlich aber sei, dass die Bettlägerigen in die Gemeinschaft einbezogen werden. „Unser Vater war samt Bett am großen Gemeinschaftstisch.“ Das Haus sei keine klassische Pflegeeinrichtung, sondern eine lebendige Wohngemeinschaft. Doch auch dort sei die Arbeitsbelastung hoch. So fragen sich Andrea und Barbara besorgt: „Wie lange kann das Personal diesen Einsatz noch durchhalten?“
Pflege-Fachleute: Den Menschen endlich in den Mittelpunkt stellen
Viel Lob für die Pflegekräfte ihrer 90-jährigen Mutter findet auch Annette: Nach einem leichten Schlaganfall und einem elfwöchigen Krankenhausaufenthalt sei die alte Dame bettlägerig in ihre Wohnung zurückgekehrt. Annette und ihr Mann, Schwester und Bruder und ein ambulanter Pflegedienst versuchten, die Seniorin wieder zu mobilisieren – „ohne Erfolg“. Nach dem Umweg über eine Verhinderungspflege in einer Alteneinrichtung konnte die 90-Jährige schließlich im betreuten Wohnen des gleichen Hauses untergebracht werden. „Dort geht es ihr sehr gut.“
Das Essen wird frisch im Haus zubereitet, die Pflegekräfte sind rund um die Uhr im Einsatz. Eine Wäscherei im Haus gibt es auch. Bei der Auswahl der Unterbringung spiele allerdings der Unterschied „Pflegeheim“ zum „betreuten Wohnen“ eine entscheidende Rolle. „Die Heime unterliegen dem Heimgesetz, beim betreuten Wohnen wird eine Wohnung angemietet, die notwendige Betreuung kommt extra dazu.“
Uwe Wiemann und Siegfried Räbiger von „Aktiv altern in NRW und überall“ sind sich sicher: „Solange Kräfte in den Pflegeeinrichtungen am Fließband arbeiten müssen, vergrößert sich die Not.“ Es sei höchste Zeit, dass die gewählten Bundestagsabgeordneten das Pflegesystem und seine Finanzierung jetzt endlich grundlegend im Sinne einer menschlichen Altenbetreuung reformieren. „Der Mensch muss im Mittelpunkt stehen und nicht mehr Betreiber und Investoren.“