Oberhausen/Mülheim. Rainer Hilsmann (76) übergibt die Gutenberg-Apotheke. Was erlebt man in 45 Jahren als Apotheker in Oberhausen? Und warum war einst vieles besser?

„Warum ich meine Apotheke abgebe? Weil ich mich kaum mehr bewegen kann“, sagt Rainer Hilsmann belustigt am Telefon. Es ist reinste Ironie. Der 76-Jährige kokettiert gerne damit, dass man ihn auch 20 Jahre jünger schätzen könnte, dass er „noch voll unter den Lebendigen ist“, wie er es selbst scherzhaft formuliert. Trotzdem hört er jetzt nach über 45 Jahren als Apotheker auf – weil er in Zeiten von elektronischen Rezepten, „im pharmazeutischen digitalen Zeitalter“, doch nicht mehr ganz vorne mitmischen will. „Und weil ich sonst mit meiner Frau Ärger bekomme.“

Am 9. Dezember 1976 öffnete Hilsmann erstmals die Türen der Gutenberg-Apotheke an der Hermann-Albertz-Straße. „Die Indikationsgebiete haben sich seitdem etwas verschoben“, sagt der gebürtige Oberhausener. Heißt: Die Kunden besuchen die Apotheke heute aufgrund anderer Leiden als damals. „Früher kamen viel mehr Leute mit Geschlechtskrankheiten, das ist heute nicht mehr der Fall. Dafür ist die Pille danach heute viel mehr ein Thema.“ Auch Tuberkulose-Patienten begrüße er heute fast gar nicht mehr, „höchstens noch Menschen mit Migrationshintergrund, die in ihren Heimatländern erkrankt sind und jetzt nachtherapiert werden müssen.“ Dafür nach wie vor große Themen in der Breite der Bevölkerung: Diabetes, Rheuma, Herz-Kreislauf-Erkrankungen. [Lesen Sie auch: Herztod bleibt in Oberhausen die häufigste Todesursache]

Wettbewerb macht Apothekern heute das Leben schwer

Und die Leiden der Apotheker? Die seien seit den Siebzigern nur größer geworden, findet Hilsmann. „Früher war vieles einfacher. Es gab nicht den Wettbewerb, den es heute gibt. Heute unterbietet jeder den anderen mit Rabatten, manche Schaufenster sehen aus wie Schießbuden.“ Für ihn sei das immer „unter seiner Würde“ gewesen, meint Hilsmann. Aber als Apotheker in einem Ärztehaus war er auch nicht auf die Preisschlacht bei Kosmetika oder Gesundheitssäften angewiesen: Rund 90 Prozent verschreibungspflichtige Arzneien würden bei ihm ausgegeben, gibt er an. Heute ist ein medizinisches Versorgungszentrum (MVZ) im Haus, in dem Suchtpatienten behandelt werden. Sie finden oft den Weg in die Apotheke im Erdgeschoss.

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Der Wettkampf macht den niedergelassenen Apothekern auch mit Blick auf die Online-Konkurrenz zu schaffen. Seitdem der Versand verschreibungspflichtiger Medikamente auch aus dem europäischen Ausland möglich ist, machen Versandhändler wie Doc Morris aus den Niederlanden Hilsmann und seinen Kollegen das Leben schwer. „Wir wünschen uns ja Wettbewerb, aber eben mit fairen Mitteln, damit man nicht in wirtschaftliche Schwierigkeiten gerät“, sagt Hilsmann. Ein zusätzlicher Nachteil im Konkurrenzkampf: Der Oberhausener Gewerbesteuer-Satz, der NRW-weit am höchsten ist.

„Bürokratiemonster-Gesetze“ belasten Apotheken

Hinzu kommt die Bürokratie, die Hilsmann erdrückt. Und mit diesem Eindruck ist er nicht allein. Auch Martin Müller, der das Geschäft der Gutenberg-Apotheke nun übernimmt, klagt darüber, dass man als Apotheker „immer mehr ins Büro verbannt wird, um Papiere zu erledigen.“ Als Beispiel nennt er das 2017 in Kraft getretene Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetz, von ihm nur „Bürokratiemonster-Gesetz“ genannt. Um mit Inkontinenzmitteln, Blutzuckermessgeräten oder Nadeln für Verbandsstoffe beliefert werden zu können, muss er externe Qualifizierungen absolvieren. Nach zwei Jahren folge die Auffrischung, dann die Überwachung der Qualifizierung – alles verbunden mit Formularen, Fragebögen.

Apothekensterben am Niederrhein

Die 44 Oberhausener Apotheken gehören zum Kammerbezirk Nordrhein. Die Apothekerkammer Nordrhein teilte jüngst mit, dass sich die Zahl der Apotheken seit Beginn des Jahres 2021 im Bezirk um 21 verringert hat.

Die Versorgung der Menschen mit Arzneimitteln ist überall sichergestellt. Trotzdem ist die Tendenz besorgniserregend“, teilte dazu Kammerpräsident Dr. Armin Hoffmann mit, der die Konkurrenz durch Online-Versandhändler aus dem Ausland als Haupttreiber für das Apothekensterben sieht.

„Dass es in Zukunft weniger Bürokratie geben wird, ist unvorstellbar. Aber es wäre zumindest schön, wenn es nicht noch mehr werden würde“, meint Müller – und formuliert damit einen Wunsch an die nächste Bundesregierung.

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Dass Martin Müller, der bereits zwei Apotheken in Oberhausen besitzt, mit der Gutenberg-Apotheke nun sogar expandiert, hat insgesamt also weniger mit der guten Lage für niedergelassene Apotheker in diesen Zeiten zu tun. Er sieht es eher als Notwendigkeit. „Kleine Apotheken sind in der Politik nicht mehr richtig erwünscht, deswegen muss man sich vergrößern und mehrere Standbeine haben.“ Gesetzlich erlaubt ist, dass Apotheker zusätzlich zur Hauptapotheke drei weitere Filialen in räumlicher Nähe eröffnen dürfen.

In der Corona-Zeit hatten Apotheker „wenig zu meckern“

Die Klagen der Apotheker mögen in den Ohren derjenigen wenig bemitleidenswert klingen, die an die großzügigen Erstattungen für FFP2-Masken in der Corona-Zeit denken. Zur Erinnerung: Die Apotheken erhielten einst sechs Euro für jede Maske. „In der Corona-Zeit konnten wir wenig meckern, die Pandemie hat uns keine finanziellen Einbußen gebracht“, sagt Müller – und hofft, dass bei Politik und Gesellschaft hängengeblieben ist, wie wichtig die Nahversorgung durch örtliche Apotheker ist.

Rainer Hilsmann, der als Vermieter eines Teilbereichs des Ärztehauses weiterhin mit der Immobilie an der Hermann-Albertz-Straße verbunden bleibt, wird die weitere Entwicklung nicht nur vom Spielfeldrand beobachten. „Hin und wieder“ werde er mal aushelfen, sagt er – und sich ansonsten den schönen Dingen des Lebens widmen: Enkelkinder, Golfen, Reisen. „Außerdem bin ich ein Freund der Wein- und Esskultur“, sagt das Mitglied der „Commanderie de Bordeaux“, einer Gruppe örtlicher Wein-Kenner. In Hilsmanns Jungbrunnen fließt also Rebensaft.