Oberhausen. Je länger der Lockdown, umso schlimmer die Schäden, warnt der Kinderschutzbund Oberhausen. Auch die Mitarbeiter des Jugendamtes sind alarmiert.
Werden die Folgeschäden für Kinder umso gravierender, je länger der Corona-Lockdown andauert? Wer einen Blick auf die Zahlen wirft, kann diese Einschätzung zunächst nicht bestätigen: Das Oberhausener Jugendamt registrierte im ersten Corona-Jahr 2020 durchschnittlich 600 Gefährdungsmeldungen – und damit nur etwas mehr als in den Jahren 2019 und 2018. Doch die Fachleute der Jugendhilfe machen sich große Sorgen.
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„Keine Schule, kaum Kontakte, den ganzen Tag auf die eigenen vier Wände beschränkt – das kann vor allem vorbelastete Familien an ihre Grenzen bringen“, weiß Olaf Pütz, Fachbereichsleiter „Erzieherische Hilfen“. So erklärt sich auch, dass vielleicht nicht unbedingt mehr neue Fälle dazu gekommen sind, sich die Meldungen über bereits bekannte Familien aber dennoch häufen.
Das soziale Netz hatte schon immer große Löcher
Auf den ersten Blick scheint das soziale Netz trotz Homeschooling in Oberhausen aber noch zu greifen: Während vor dem Lockdown die meisten Hinweise von Lehrern oder Sozialarbeitern aus den Schulen beim Jugendamt eingingen, „melden sich jetzt eher Nachbarn“, beobachtet Pütz.
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Auf den zweiten Blick wird klar, dass das Netz schon immer große Löcher hatte. Zwar kann auch Michael May, Leiter des Oberhausener Kinderschutzbundes, bestätigen: „Bis zu 70 Prozent der Meldungen kommen aus Kitas und Schulen.“ Die Frage aber sei: „70 Prozent wovon?“ May spricht von einer großen Dunkelziffer.
„Wir hatten schon mal ein Kind hier mit einem Handabdruck im Gesicht, der bis zum Nachmittag sichtbar war“, sagt May, der auch als Kinder- und Jugendtherapeut tätig ist. Als er die Lehrerin des Kindes ansprach, habe sie entgegnet, sie hätte das nicht bemerkt. Mays Fazit nach vielen ähnlichen Vorfällen sieht entsprechend bitter aus: „Es wird vertuscht und weggeguckt – die meisten Leute halten sich raus.“
Auch die Experten der Jugendhilfe sind beunruhigt
Genau das beunruhigt auch die Experten der Jugendhilfe vor Ort. „Die 90 Mitarbeiter unserer fünf Regionalteams sind aktuell viel unterwegs“, bestätigt Olaf Pütz. Drei Einsätze pro Tag hätte jeder von ihnen mindestens. Dazu kämen Telefonberatungen, Videogespräche. Vor allem aber möglichst viel persönlicher Kontakt. „Das ist dann coronabedingt mal ein Spaziergang mit den Familien im Park, aber auch – und eben mit Abstand – ein Besuch in der Wohnung.“ Zu Ostern werden den betreuten Familien wieder Bastelkörbchen vorbeigebracht. „Kinder und Eltern haben das schon zu Weihnachten sehr dankbar angenommen.“
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Wichtiger als je zuvor seien außerdem die zusätzlichen Hilfen zur Erziehung, die trotz Corona von den Mitarbeitern der Diakonie, Caritas oder Arbeiterwohlfahrt nach wie vor direkt in den Familien geleistet werden. Insbesondere da durch das Homeschooling die Nerven häufiger blank liegen. Viele Familien wenden sich in diesen Fällen sogar selbst mit der Bitte um Hilfe ans Jugendamt. „Deshalb unterstützen unsere Integrationshelfer bei Bedarf jetzt auch noch beim Homeschooling“, sagt Jugendamtsleiter Deniz Ertunc.
Es fehlt das gesellschaftliche Gesamtkonzept
Michael May hält diese Angebote prinzipiell für eine gute Sache. Doch dem Kinderschutzbund-Leiter fehlt darüber hinaus das gesellschaftliche Gesamtkonzept. Er wirft der Landespolitik, aber auch den Schulen vor Ort, „eine erschreckende Untätigkeit“ vor.
Jeder Mitarbeiter betreut rund 35 Fälle
306 Kinder und Jugendliche in Oberhausen leben aktuell in 238 Pflegefamilien. Im ersten Corona-Jahr 2020 hat das Jugendamt Oberhausen 236 so genannte Inobhutnahmen durchführen müssen.
Als Inobhutnahme wird die vorläufige Aufnahme und Unterbringung eines Kindes oder Jugendlichen in einer Notsituation durch das Jugendamt bezeichnet. Für 2019 gibt das Jugendamt in Oberhausen 225 Inobhutnahmen an, 2018 waren es 253.
Jeder in Vollzeit tätige Jugendhilfe-Mitarbeiter der fünf Regionalteams in Oberhausen betreut rund 35 Fälle. Durch Krankheitsvertretungen können es auch bis zu 40 Fälle werden.
Das Jugendamt informiert den Krisenstab der Stadt regelmäßig über die Lage in belasteten Familien.
May fragt: „Wieso sind selbst nach fast einem Jahr noch immer nicht alle Schulen digital ausreichend ausgestattet? Wo bleiben die vom Land ins Gespräch gebrachten Luftfiltergeräte für Klassenräume und Kitas?“ Es fehle bis heute ein Plan, damit zumindest ein regelmäßiger Wechselunterricht für alle Kinder – und nicht nur wie soeben wieder ermöglicht – für einen Teil stattfinden kann. Bislang habe er eher den Eindruck, Schulen und Schulministerium würden lediglich versuchen, die Corona-Krise auszusitzen. „Das funktioniert aber ganz offensichtlich nicht, dabei bleiben viel zu viele Kinder auf der Strecke.“
Wesentlich seien darüber hinaus Sportangebote, die man mit Abstand ausüben könnte. Die von der Landesregierung ab Montag, 22. Februar, wieder möglich gemachten Aktivitäten, könnten nur ein erster Schritt sein. Für diese gilt: Sport allein, zu zweit oder mit Menschen des eigenen Hausstands auf Sportanlagen unter freiem Himmel (einschließlich im Einzelunterricht) ist nun wieder erlaubt. Immerhin sei dies aber ein kleiner Lichtblick, denn: „Es geht hier um die körperliche und seelische Gesundheit einer ganzen Generation – was ist wichtiger als das?“