Oberhausen. Wie Eltern in Corona-Zeiten einen kühlen Kopf bewahren: Der Oberhausener Psychotherapeut Michael May rät, Schul-Ansprüche zurückzuschrauben.
Viel wird gesprochen über die Gesundheit von Kindern in der Pandemie – ob genug dafür getan wird, ist aus der Sicht vieler Familien mindestens fraglich. Michael May (52) ist als Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche sowie Vorsitzender des Kinderschutzbundes Oberhausen in doppelter Hinsicht ein Experte für die Lage der Jüngsten im andauernden Lockdown. Was er zu Faulheit im Homeschooling, die richtige Dosis TV sowie psychische Langzeitfolgen zu sagen hat, ist in diesem ausführlichen Interview zu lesen.
Kinderärzte warnen vor der Zunahme an depressiven Verstimmungen, Eltern betonen seit Beginn der Pandemie, die Politik ignoriere das Leiden der Kinder. Wie schlimm ist die Lage wirklich?
Michael May: Sie ist sehr bedenklich, zuweilen verheerend. Jetzt im zweiten Lockdown sind Kinder und auch Erwachsene zunehmend gestresst, lethargisch und erschöpft. Als Psychoanalytiker geht es mir darum, früher Erlebtes aufzuarbeiten. Das geht aktuell nur sehr am Rande. In der Psychotherapie hat jeder nur Anspruch auf eine bestimmte Menge an Sitzungen. Ich komme mit vielen Patienten aber pandemiebedingt seit einem Jahr nur schwer weiter.
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Warum genau?
Psychoanalyse ist wie Tauchen: Wenn Sie es aufgrund des Wellenganges gar nicht erst schaffen, die Tauchausrüstung anzuziehen, ist es unmöglich, tiefer zu tauchen – also seelisch tiefer vorzudringen. Ich versuche deshalb, im Alltag immer möglichst viel Ruhe bei den Patienten zu erzeugen, damit sie ihre seelischen Probleme verarbeiten können. Viele haben durch die Pandemie aber so viel realen Stress, dass sie sich nicht um ihre Grunderkrankung kümmern können. Dafür braucht man einen inneren Raum. Der ist aber aktuell mit Arbeitsüberlastung oder Angst nach Arbeitsplatzverlust gefüllt.
Und bei den Kindern mit Frust beim Homeschooling?
Ja, unter anderem. Wobei ich nicht gerne von Homeschooling spreche. Es ist in den meisten Fällen nur ein Abarbeiten von Arbeitsblättern. Ich sage allen Eltern: Lassen Sie das mit der Schule auch mal, wenn das Kind nicht mehr kann. Versuchen Sie das, was Sie unter den Umständen schaffen – aber machen Sie sich keinen unnötigen Stress! Denn das ist der völlig falsche Weg. Die Eltern versuchen eher, den Lehrern zu gefallen als dem Kind zu helfen. Dass Schulleistung aktuell wichtiger sein soll als seelische Gesundheit, finde ich sehr problematisch. Am Ende werden viele kaputtgeschuftet aus dieser Pandemie herauskommen.
Und wenn der Nachwuchs die aktuelle Situation ausnutzt und eben doch faul ist?
Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht. Ich halte den Vorwurf der Faulheit oft für eine Unterstellung, gerade jetzt in diesen Zeiten. Wenn sich ein Kind ständig in virtuelle Welten flüchtet und sich damit ablenkt, dann sollte man nach den Ursachen suchen. Vielleicht ist die „Faulheit“ auch einfach nur der Überforderung geschuldet. Kinder sind – je jünger sie sind – nicht daran gewöhnt, bloß mit Arbeitsblättern zu lernen. Das ermüdet, erschöpft, entmutigt. Das große Problem ist nur, dass die Eltern, die ihren Kindern helfen sollten, selbst so belastet sind, dass sie nicht angemessen unterstützen und schwer Verständnis aufbringen können.
Wie schaffen es Eltern, einen kühlen Kopf zu bewahren?
Es ist wichtig, dass Eltern keine unnötige Kraft vergeuden und selbst mit simplen Mitteln auch bei sich selbst für Ausgleich sorgen – Rad fahren, spazieren, Videoanrufe bei Freunden. Einfach das tun, was derzeit möglich ist, statt immer nur darüber zu klagen, was aktuell nicht geht. Außerdem sollte man unnötige Konflikte vermeiden und Ressourcen schonen. Es hilft, sich darauf zu besinnen, was gut miteinander klappt. Wenn man weiß, dass ein bestimmtes Spiel in der Familie schnell Ärger bringt, ist es günstiger, etwas anderes zu tun.
Verführerisch ist es aber auch, die Kinder einfach vor den Fernseher zu setzen. Ein Problem?
Mit dem Fernsehen ist es wie bei der Zufuhr von Schmerzmitteln. Bei richtiger Dosis über eine geringe Dauer kann so ein Mittel eine gute Hilfe sein – aber nicht, wenn man es Monate nimmt. Selbst wenn man den ganzen Tag nur „Sendung mit der Maus“ schaut, ist das nicht entwicklungsfördernd. TV und Videospiele – die viele Kinder übrigens für den Aggressionsabbau nutzen – sind aber kein Teufelszeug. Bevor man das Kind wegen Stress’ im Homeoffice anpöbelt, sollte man lieber den TV einschalten. Wichtig wäre dann aber, die gleiche Zeit mit Bewegung zu verbringen.
Der Kinderschutzbund
Der Kinderschutzbund Oberhausen (Styrumer Straße 27) bietet Kindern und Familien mit verschiedenen Projekten Hilfe. Dazu gehört eine Gruppe für Eltern, deren Kind aufgrund einer Jugendhilfemaßnahme fremd untergebracht wird, oder ein begleitender Umgang für Trennungsfamilien. Der Verein ist auf Spenden angewiesen, Infos: kinderschutzbund-oberhausen.deSchnelle Hilfe in Krisensituationen erhalten Familien über die Nummern 0800-1110-550 (Elterntelefon) oder 0800-1110-333 (Kinder- und Jugendtelefon).
Leicht gesagt: Viele Bewegungsangebote pausieren derzeit.
Es braucht doch nicht viel, um Kinder glücklich zu machen und zur Bewegung zu motivieren. Viele Familien nehmen in normalen Zeiten häufig kommerzielle Angebote wahr. Es wird leider oft so getan, als wenn das Event im Event selbst liegt – dabei ist das Event das menschliche Miteinander.
Virologen und Epidemiologen sind aktuell allgegenwärtig. Fehlt die psychosoziale Betrachtung?
Natürlich frage ich mich: Warum sind keine Psychologen in den Corona-Beratungsgremien vertreten? Warum findet die Fachmeinung der Bindungsforschung keinen Platz? Schließlich sind Bindungen neben Essen, Trinken und Schlafen das zweitwichtigste Bedürfnis eines Menschen. Aber leider haben wir insgesamt als Gesellschaft zu wenig Bewusstsein für die Erkrankung von kindlichen Seelen. Auch Säuglinge können psychosomatisch erkranken. Wir ziehen den Kindern aber immer nur eine Ritterrüstung an, wenn sie Inliner fahren. Nur da halten wir sie für verletzlich.
Familien verbringen derzeit viel mehr Zeit zusammen. Kann das nicht auch positive Folgen für die Bindung haben?
Wenn Sie über ein Landgut und Bedienstete wie die Familie von der Leyen verfügen, kann das natürlich eine Zeit lang gut gehen. Aber Enge und Bedrohung von außen sind in der Regel auf die Dauer schädlich. Bindungserkrankungen bilden sich meist im engsten Familienkreis. Jetzt hocken viele Familien aber noch mehr zusammen, da spitzt sich die Lage zu. Es gibt Menschen, die das länger und kürzer durchhalten, aber das ein nennenswerter Anteil der Familien am Ende von dieser Lage profitiert, glaube ich nicht. Irgendwann sind bei jedem die psychischen Fettpolster aufgebraucht.