Oberhausen. Die Legendary Shorts der Oberhausener Kurzfilmtage sind kein Produkt der Coronakrise. Die digitale Schatzkiste klappte schon vor drei Jahren auf.
Man möchte fast abwinken, weil in diesen Wochen der Pandemie ja sämtliche Kultur-Institutionen nur noch einen Weg nach draußen, zu ihrem Publikum kennen: den Stream im Internet, ob live oder als Aufzeichnung. Doch im Fall der Internationalen Kurzfilmtage hieße dies, eine ganze Kette filmhistorischer Perlen zu verschmähen. Zudem ist diese digitale Schatzkiste – zwar unbescheiden, aber sehr zutreffend „Legendary Shorts“ genannt – gar kein Verzweiflungsakt, getrieben von der Corona-Krise.
Denn bereits seit Oktober 2017 stellt das Team in der Kulturvilla (oder im Homeoffice) Woche für Woche einen legendären Kurzfilm bereit, begleitet von einer kurzen Anmoderation. Und bereits der Auftakt vor 37 Monaten sorgte für ein messerscharfes Vergnügen: Der damals 22-jährige Martin Scorsese, Student der englischen Literatur an der New York University in Greenwich Village, hatte 1965 den Kurzfilmtagen „It’s not just you, Murray!“ eingereicht, laut Filmkunst-Eminenz Les Keyser einer der besten studentischen Filme aller Zeiten. Mit der 15-minütigen Lebensbeichte eines Mafioso, inspiriert von seinem Onkel, war der junge Scorsese gleich in seinem späteren Metier – von „Mean Streets“ bis „The Irishman“.
Zu sehen sind auf kurzfilmtage.de und auf der Facebook-Seite des Traditionsfestivals allerdings keine „hauseigenen“ Ausgrabungen aus den Kunststoff-Dosen des Archivs. Die „Legendary Shorts“ präsentieren vielmehr Links zu jenen, die das frühe Schaffen der damals meist noch unbekannten Größen aus Film, Musik und Bildender Kunst bereits im weltweiten Web platziert hatten. Es begann als Facebook-Serie, erläutert Sabine Niewalda, Sprecherin der Kurzfilmtage: „Wegen des großen Erfolges und um die Fundstücke nicht wieder in der Bilderflut des Internets zu verlieren, zeigen und sammeln wir sie jetzt auch auf unserer Webseite.“
Die Schatzsuche folgt keiner Systematik
Die Aura der Schatzsuche und des Glücksrittertums bleibt dabei erhalten: Denn das wöchentliche Recherche-Ergebnis folgt keiner Systematik – sondern vor allem dem Glück des Findens. So landete Roman Polanski s groteske Komödie „Zwei Mann und ein Schrank“, die Posse eines barocken Möbel-Transports bis zu den Wellen der Ostsee, bereits 2017 im digitalen Legenden-Stapel. Während sich ein Werk von verwandtem Esprit, aber über 30 Jahre älter, unter den aktuellsten Neuzugängen einreihte: Dabei stammt „Pass the Gravy“ aus der Slapstick-Fabrik des Stummfilm-Diktators Hal Roach , in dessen Studios einst Laurel und Hardy Akkord-Fron leisteten.
Moment mal, ein Stummfilm im Programm der 1954 gegründeten Kurzfilmtage? Klar doch, denn auch Festival-Retrospektiven zählen mit: „Reich mal die Soße“, weiß Sabine Niewalda, zählte 1997 zum Programm „Amerikanische Stummfilmkomödien“, die allesamt mit Live-Musik präsentiert wurden. Auf diesen Soundtrack muss der heutige Online-Zuschauer allerdings verzichten.
Hopser durch ein ganzes Jahrhundert Filmhistorie
So hopst, wer die bald 160 Filme lange Liste der „Legendary Shorts“ entlang scrollt, munter durch ein ganzes Jahrhundert Filmhistorie. Und nimmt en passant auch noch kleinere Kapitel der Kunstgeschichte sowie der Popmusik-Trends mit. Beispiel gefällig?
Das 22 Jahre alte Video für Björk s „All is full of Love“ ist beides: Pop und Kunst. Der knapp fünfminütige Musikfilm des britischen Clip-Spezialisten Chris Cunningham zeigt, wie Björk in einer Fabrik menschenähnlicher Roboter am Fließband zusammengesetzt wird – und sich in einen anderen Androiden verliebt. Weniger die üppig arrangierte Triphop-Ballade ist hier die Sensation, sondern der filmische Meilenstein der Computer-Animation: Als Kunst-Exponat avancierte „All is full of Love“ sogar ins „MoMA“, New Yorks Museum of Modern Art.
Auch ohne chronologische oder thematische Ordnung wird dem „Legendary Shorts“-Genießer deutlich: Die ganz große Zeit der Kurzfilmtage waren die wilden 1960er, frühe ‘70er inklusive: Die großen Namen des deutschen Autorenfilms waren hier Stammgäste; Frankreich war als „Grande Nation“ der Filmkunst in vergleichbarer Stärke vertreten – und ist unter den „Shorts“ angemessen repräsentiert.
Lehrstunde für die „Black Lives Matter“-Bewegung
Besonders eindrucksvoll und geradezu erschreckend aktuell wirkt die Zeitlosigkeit der besten Sixties-Filme in der knappen halben Stunde von „Black Panther“, gefilmt im Sommer 1968 während der Unruhen im kalifornischen Oakland. Agnès Varda , die im vorigen Jahr 90-jährig verstorbene Grande Dame des französischen Kinos, zeigt die Proteste gegen die Inhaftierung des „Panther“-Aktivisten Huey Newton. Sie zeigt auch, wie Polizisten die Frontscheibe eines „Panther“-Büros zerschießen, auf dem ein Newton-Plakat klebte. Eine Lehrstunde für die „Black Lives Matter“-Bewegung im anregenden „Shorts“-Format.
Selbst für den guten, alten „Industriefilm“ aus den ganz frühen Jahren der „Westdeutschen Kulturfilmtage“ , wie sie in den 1950ern noch hießen, findet die legendäre Liste einen grandiosen Repräsentanten: Denn kein geringerer als Michelangelo Antonioni drehte 1949 „Sieben Schilfrohre für ein Kleid“ – klingt, als wäre es der Titel einer zauberhaften tschechischen Märchenfilm-Produktion. Tatsächlich ist’s ein Blick auf die italienische Chemieindustrie vor 70 Jahren. „Englische Untertitel zuschaltbar“, informiert sachlich die Anmoderation.
Es ist zu spät, um jetzt aufzuhören
Nur der Hinweis „Auch für Kinder geeignet“ ist in dieser „unendlichen Geschichte“ des Kurzfilms etwas knapp gehalten. Aber der Nachwuchs soll ja – Corona hin oder her – nicht so viel Zeit vorm Bildschirm verbringen. Für alle anderen, und vor allem für die emsigen Sucher und Finder der „Legendary Shorts“, dürfte der alte Van-Morrison -Albumtitel gelten: „Es ist zu spät, um jetzt aufzuhören.“ Bei jährlich 500 Filmen im Festival-Programm ist das Legenden-Potenzial noch längst nicht erschöpft.