Oberhausen. Mut zur Vorläufigkeit: Das Programmbuch für die Theater-Spielzeit 2020/21 lässt sich umbauen – und das Ensemble kugelt durch Oberhausen.

Schauspiel und Abstand – das klingt zunächst wie ein Widerspruch in sich. Ein Ensemble will schließlich Nähe herstellen, will nicht nur einen Text vortragen, sondern aus Worten lebendige Erfahrung formen. Dass und wie Schauspiel auch auf Abstand gelingen kann, hat das Theater Oberhausen bereits mit der ersten Premiere seiner Spielzeit 2020/21 gezeigt: Selten sah man so sehnsüchtig Verliebte wie diesen Johannes Pinneberg und sein „Lämmchen“, die einander in Hans Falladas „Kleiner Mann – was nun?“ nie auch nur berühren dürfen.

Eine ruhige Kugel: Elisabeth Hoppe in der „Bubble“, fotografiert im schicken „Tanzcentro“.
Eine ruhige Kugel: Elisabeth Hoppe in der „Bubble“, fotografiert im schicken „Tanzcentro“. © Theater Oberhausen | Isabel Machado Rios

Die Probenbühne in Buschhausen ist mit Bodenmarkierungen quadriert; der kritische Blick des Regieteams auf die anderthalb Meter Mindestdistanz geeicht. Schon im Sommer hatte das Theater die (Un)Möglichkeiten des „neuen“ Schauspiels offensiv zum Thema gemacht: „Abstand mit Haltung“ brachte es im digitalen Programm auf acht Video-Folgen, eröffnet von Lise Wolle, die gegen die zauberhaften Schemen des traditionellen türkischen „Karagöz“-Schattenspiels von Sibel und Serkan Öztürk antrat.

Die Erfindung des umbaubaren Programmbuchs

„Bleibt alles so unsicher?“ Mit dieser bang klingenden Frage grüßt das Theater im endlich erschienenen Programmbuch sein liebes Publikum. „Muss für jedes Stück immer noch eine B-, C- oder D-Variante mitgedacht werden?“ Da hilft wohl nur der Mut zur Vorläufigkeit – und der hat in dem bescheiden „Heft“ genannten 110-seitigen Band eine besondere Gestalt angenommen.

Denn gelocht und perforiert gab’s den Spielzeit-Überblick noch nie. So findet der Schauspiel-Fan „jede Produktion, sollte sie nicht wie – oder ganz anders als – geplant stattfinden, als heraustrennbaren Zettel vor“. Es ist die Erfindung des umbaubaren Programmbuchs. „Sollte etwas dazukommen, drucken wir auch dafür einen gelochten Zettel.“

Sechs Wiederaufnahmen für junges Publikum

Neben den Premieren und Gastspielen informiert das Spielzeitbuch auch über die acht Wiederaufnahmen – von denen gleich sechs für das junge Publikum in Szene gesetzt wurden: von „Oh yeah, Baby!“ für Zweijährige (und natürlich alle Älteren) bis zu „Mojo Mickybo“ ab zwölf Jahren. Diese Inszenierungen, erklärt Monika Madert, „müssen neu eingerichtet werden“, damit sich die Akteure zumal in den Tanz- und Kampfszenen nicht mehr zu nahe kommen.

Die erste Premiere im Großen Haus vor hundert Zuschauern wird am Freitag, 9. Oktober, die Uraufführung von „Herkunft“ sein: Buchpreisträger Saša Stanišić hatte sich unter etlichen Bewerber-Bühnen für Oberhausen entschieden – und das Ensemble in Sascha Hawemann mit seiner ebenfalls deutsch-jugoslawischen Biografie den idealen Regisseur ausgemacht.

Hübsche Idee, aber entscheidender prägt den neuen Look die große Fotostrecke von Isabel Machado Rios mit Porträts der elf Schauspielerinnen, acht Schauspieler und des Theatermusikers. Nein, sie tragen keine noch so farbenfroh gestalteten Masken. Sie machen vielmehr das Abstandsgebot transparent: Die Fotografin inszenierte sie hinter Folien, tragbaren Scheiben oder in den als Trendsport beliebten mannshohen „Bubbles“: So bugsierte etwa Henry Morales, einer der sieben Neuen im Ensemble, sich und seine Folienkugel morgens um 7.30 Uhr ins tropischblau glitzernde Becken des Aquaparks.

Keine Eselei:Theaterfotografin Isabel Machado Rios im Kaisergarten, wo eigentlich Klaus Zwick zwischen den Tieren „modeln“ sollte.
Keine Eselei:Theaterfotografin Isabel Machado Rios im Kaisergarten, wo eigentlich Klaus Zwick zwischen den Tieren „modeln“ sollte. © Theater Oberhausen | Lisa Wartzack

So setzte sich Anna Polke, solidarisch aber trocken, ins Ebertbad und kugelte Daniel Rothaug durch den Bahnhof, während Agnes Lampkin sehnsuchtsvoll aus dem Schaufenster von „Zaza‘s Espressobar“ blickt, der so lange vom Ensemble verlassenen Quasi-Kantine des Theaters.

Ein detailgetreues Modell in der „Bubble“

Liebenswürdig-programmatische Fotoinszenierungen des Ensembles gab’s auch in den vorherigen Spielzeiten: ob als Malocher an Mischpult und Fritteuse 2018/19 oder als „Held*innen der Liebe“ 2019/20. Den größten „Bubble“-Coup des neuen Programms jedoch dürfte kaum ein unbefangener Betrachter auf Anhieb würdigen. Theatersprecherin Monika Madert aber schwört: „Das Titelbild ist keine Fotomontage!“

Das hinter dem Folienrund schimmernde 100-jährige Theater steckt wirklich in der auf eine Wiese gerollten Blase: und zwar als detailgetreues Modell, inklusive eines Stückchens Ebertstraße. Theatergänger können ja jederzeit, mit dem Programm in Händen, die Perfektion dieses Modells am Original studieren. Noch ein Grund mehr, die Abstands-Artistik des Theaters aus der Nähe kennenzulernen.