Mülheim an der Ruhr. . Am Samstag ist Allerheiligen, am Sonntag Allerseelen: Die WAZ traf auf dem Mülheimer Hauptfriedhof Menschen, die erstaunlich offen sprachen über ihre Gefühle und Gedanken zum Tod. Sie berichteten, was ihnen Friedhöfe heute noch bedeuten und inwieweit Glaube und Kirche für sie noch Thema sind.

Eine Umfrage von Zeitungsleuten mitten auf dem Friedhof: Wie werden die Menschen reagieren? Werden sie sich auf Gespräche einlassen? Uns an ihren innersten Gedanken und Gefühlen teilhaben lassen? Oder werden sie sich abschirmen, klare Grenzen ziehen? Einschätzen konnten wir das nicht, als wir uns am gestrigen Reformationstag aufmachten zum Hauptfriedhof an der Zeppelinstraße. Zu Beginn des Trauermonats November interessierte uns die Frage, was die Mülheimer in den eher nüchternen, schnelllebigen und oft oberflächlichen Zeiten wie diesen noch auf dem Friedhof suchen – und ob sie noch im klassischen Sinne glauben.

Die Antworten waren vielfältig – und eines erstaunte dabei besonders: Lediglich ein, zwei Menschen wandten sich ab. Die meisten anderen dagegen erzählten viel und gerne. Von Verwandten, die sie verloren haben, von ihrem mehr oder minder stark ausgeprägten Glauben, sogar vom eigenen Tod.

Offensichtlich, so dachten wir anschließend, besteht Gesprächsbedarf beim Thema. Der November bietet sich an. . .

„Ich bin Atheist, glaube nicht an Gott und brauche auch keinen Gott“

Bruno Urbanski (64): „Ich gehe nie auf Friedhöfe, es sei denn zu Beerdigungen. Ich bin Atheist, glaube nicht an Gott und brauche auch keinen Gott. Ich bin konfirmiert, aber nicht christlich erzogen worden. Ich finde aber, dass in der Kirche gute soziale Arbeit gemacht wird – deshalb engagiere ich mich auch, mähe zum Beispiel den Rasen im Katholischen Kindergarten. Heute bin ich hergekommen, weil wir uns um das Grab der Tante meiner Freundin kümmern müssen. Elfriede Böhmer ist 1990 gestorben, jetzt endet das Grabnutzungsrecht. Der Stein muss weg und Rasen gepflanzt werden. Wir wollen uns jetzt noch mal vor Ort umschauen.“

Gustav Kocks (75): „Ich besuche regelmäßig die Gräber meiner Eltern und stelle Blumen hin. Der Friedhof ist für mich ein Ort der Besinnung – aber auch einer zum Geldverdienen. Ich bin Friedhofsgärtner. Ich habe mit 14 angefangen und seitdem hat sich das Verhalten der Menschen stark verändert. Sie lassen heute am liebsten anonym bestatten oder in der Urne – also so, dass sie möglichst wenig Arbeit haben. Früher haben die Toten eine größere Rolle gespielt; da haben wir vor Allerheiligen oft wochenlang Nachtschichten eingelegt, um Gestecke vorzubereiten. Wir mussten Lkw-weise Tannengrün beschaffen – das ist lange vorbei.“

„Ein Mülheimer“ (64): „Friedhöfe gibt es seit vielen hundert Jahren, sie spielen schon von daher eine wichtige Rolle. Wir kommen aber vor allem her, weil wir hier ein Kindergrab haben und heute die Winterbepflanzung dran ist. Unser Sohn Carsten ist vor 35 Jahren im Alter von neun Monaten am plötzlichen Kindstod gestorben. Auch wenn das schon lange her ist, pflegen wir die Erinnerung. Wenn wir alte Fotos angucken, sieht Carsten aus wie früher auch seine Schwester. Die ist heute 33 Jahre alt. Zum Glück ist das nicht mehr so traurig; wir haben damit abgeschlossen. Nur an Heiligabend müssen wir immer dran denken. Das war sein Geburtstag.“

„Es gibt etwas, das mächtiger ist als wir Menschen“

Katarina Krowers (62): „In unserem christlichen Umfeld, in unserem Glauben und der Kultur gehört es einfach dazu, die Vorfahren zu ehren. Ich gehe bewusst an den christlichen Feiertagen auf den Friedhof und besuche die Gräber der Verwandten. Ich komme ursprünglich aus Kroatien, da war das Leben stärker katholisch geprägt, als es hier der Fall ist. Ich bin trotzdem nicht im klassischen Sinne gläubig, sondern glaube an eine Weltreligion. Es gibt etwas, das mächtiger ist als wir Menschen, etwas, worauf sich alle beziehen können. Für mich gilt: Egal, welcher Religion man angehört, man sollte sich untereinander verstehen.“

Christel Bartkowski (66): „Mein Mann und ich haben hier keine Verwandten mehr liegen, aber wir gehen hier gern spazieren. Die Ruhe, die Bäume, das ist wie in einem Park. Uns gefällt das Urnenfeld mit der Stele in der Mitte, auf dem die Namen verzeichnet sind. Dafür haben wir uns schon fast entschieden, auch wenn wir hoffen, dass es noch lange dauert, bis sich die Frage stellt. Wenn ich Todesanzeigen in der Zeitung lese, denke ich immer öfter: Oh, das ist ja mein Alter. Für mich ist der Friedhof ein weltlicher Ort, das Leben mit dem Tod zu Ende. Wir haben viele schlimme Sachen erlebt – das hat die Zweifel an Gott verstärkt.“

Gabriele Ludwig (54): „Ich mag die Stille auf dem Friedhof, gedenke meiner Verwandten. Meine Tante ist jung an Krebs gestorben, und meine Oma liegt hier. Sie ist mit 88 gestorben, und ich habe viele Erinnerungen an sie. Ich habe sechs Geschwister, und bei meiner Oma konnte ich glückliches Einzelkind sein. Sie hatte Zeit für mich. Ich bin gläubig, habe aber keinen Bezug zur Kirche. Ich glaube an ein Leben nach dem Tod. Das wird sein wie in einem Traum, in dem ich noch mitbekomme, was da unten passiert, aber nicht mehr eingreifen kann. Ich leide an einer schweren Erkrankung; deshalb beschäftige ich mich viel mit dem Tod.“

„Hier halte ich Kontakt zu meiner Mutter und meinem Vater“

Regina Jäger (51): „Der Friedhof bedeutet mir viel. Hier halte ich Kontakt zu meiner Mutter und meinem Vater. Früher habe ich sie zu Hause besucht, und wir haben uns unterhalten. Jetzt besuche ich sie hier. Und spreche weiter ganz normal mit ihnen. Ich erzähle ihnen alles und habe das Gefühl, sie hören mir auch zu. Wenn ich danach nach Hause gehe, geht es mir gut. Ich bin katholisch und auch so erzogen worden. Ich glaube an Gott, schreie es aber nicht heraus. Egal, ob katholisch, evangelisch, muslimisch, buddhistisch oder sonst etwas: Das eigentliche Ziel muss sein, dass die Menschen sozial und gut miteinander umgehen.“

Ralf Weimer (46) mit Max (7): „Wir wohnen nicht mehr hier, aber wann immer wir da sind, besuchen wir den Papa auf dem Friedhof. Mein Vater hieß Hans-Dieter Weimer und ist vor 22 Jahren – mit gerade 54 – an Krebs gestorben. Er hat mir gefehlt. Er war ein lustiger Mann, und mein Sohn Max schläft niemals ein, ohne dass ich vorher Papa-Geschichten erzählt habe. Zum Beispiel aus seiner Zeit bei der Bundeswehr. Manchmal kommen diese Geschichten allerdings auch aus dem Reich der Fantasie. . . Ich bin kein Kirchgänger, habe meinen Sohn auch nicht taufen lassen. Aber ich bin schon gläubig und schätze die christlichen Werte.“