Mülheim. Beim WAZ-Medizinforum im Evangelischen Krankenhaus erläuterten Chefarzt Dr. Ulf Kerkhoff und Oberarzt Dr. Martin Simon, warum aus Sicht der Ärzte viel, aber nicht zu viel operiert wird. Es gebe einen hohen medizinischen Standard.
Das Ziel ist klar: Möglichst lange gesund leben, eine gute Lebensqualität genießen – und wenn der Körper schwächelt, soll es die Medizin bitte richten. Die richtet es in sehr vielen Fällen – häufig durch operative Techniken. Die Folge: Es werde viel zu viel in Deutschland operiert, klagen Kassenverbände und Politik, verweisen auf Studien und blicken sorgenvoll auf die Kosten. Wird tatsächlich zu viel operiert? Viel ja, aber nicht zu viel, sagten Chefarzt Dr. Ulf Kerkhoff und Oberarzt Dr. Martin Simon beim WAZ-Medizinforum am Samstag im Evangelischen Krankenhaus.
Schon die Vergleiche hinkten, betont Kerkhoff, der die Klinik für Unfall-, Wirbelsäulenchirurgie und Orthopädie leitet. Beispiel Hüften: In Deutschland werden jährlich rund 235.000 Hüften operiert, im OECD-Schnitt sind es 154.000 und in USA 204.000. Doch bei der OECD sind auch Länder wie Chile, Mexiko, Slowenien eingerechnet, die, so Kerhoff, einen anderen medizinischen Standard haben. In den USA würden Hüft-Frakturen nicht in den Zahlen berücksichtigt, in Deutschland schon. In Schottland etwa gäbe es jenseits des 60. Lebensjahres keine neue Hüfte mehr. Wollen wir dahin?
Nachvollziehbare Gründe
Ein Vergleich der letzten acht Jahre zeige zudem, so die Mediziner, dass die Operationszahlen bei etlichen Indikationen höchstens geringfügig stiegen, was angesichts der alternden Bevölkerung nachvollziehbar sei. Dass die OP-Zahlen in Deutschland hoch liegen, hat aus Sicht der Mediziner nachvollziehbare Gründe. Erstens: Die technischen Verfahren und die Ersatzmaterialien in der Medizin haben sich deutlich verbessert, sie sind wesentlich schonender für den Patienten. Zweitens: Die Narkose sei spürbar risikoärmer geworden und besser verträglich.
Und drittens: Der Anspruch der Menschen, so Kerkhoff, sei deutlich gestiegen. Es will sich kaum noch einer über Jahre mit Schmerzen und Bewegungseinschränkungen herumplagen. Das Leben findet jetzt statt. „Wir müssen heute keinem 50-Jährigen mehr sagen, schluck’ noch ein paar Jahre Schmerztabletten und komm’ dann wieder.“ Jenseits des 50. Lebensjahres haben fast alle einen Verschleiß an Knien, Hüfte und Wirbelsäule. Letztlich, so die Ärzte, gebe es die Empfehlungen der Medizin, der Patient aber entscheide. „Wir fangen keine Patienten ein“, so Kerhoff.
Kein festes Schema
Natürlich kommt nicht jeder Bauchschmerz unters Messer, betont der Chirurg Martin Simon. „Es gibt keine Operation ohne klare Indikation.“ Es gebe doppelte Kontrollen des jeweiligen Befundes. Es werden immer mit dem Patienten Alternativen diskutiert – sofern es kein Notfall ist. Simon erläutert am Beispiel der Gallensteine und der Gallenblasen-Entfernung wie differenziert die Vorgehensweise ist. Nicht jeder, der Steine habe, habe auch Beschwerden. Wie hoch ist das Risiko, dass Steine wandern, zu Entzündungen führen?
Es gibt kein festes Schema, wann operiert werde. „Jeder Fall ist anders.“ Entscheidend ist: Wie geht es dem Patienten? Wie hoch ist das Risiko, dass das Leiden zu einer Gefahr wird, sich verschlimmert? Die Frage, so Kerkhoff, sei nicht: Operation oder konservative Therapie? Oft sei beides erforderlich, zeitversetzt. Dazu gebe es eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Ärzten und anderen Therapeuten. Die Zweitmeinung werde bei Zweifeln immer eingeholt.
Dass es innerhalb von Deutschland zum Teil deutliche Unterschiede bei den Operationszahlen gibt, wie eine Studie in der vergangenen Woche zeigte, halten auch die Mediziner für diskussionswürdig. Beispiel Blinddarm: Auf 10 000 Einwohner berechnet, gibt es im Kreis Regen (Bayern) 114 Operationen, in Rostock 14, in Mülheim 46. Diese Unterschiede stoßen aktuell auf Kritik. Ursachenforschung steht an. Wird mancherorts zu voreilig operiert?