Die meisten Mülheimer standen 1914 hinter dem Kaiser - und so befürworteten sie auch die Entscheidung, Russland den Krieg zu erklären. Dabei war damit klar, dass bald viele Männer zur Waffe greifen müssen. Historiker Hans-Werner Nierhaus skizziert die Stimmung.

Mülheim, 1. August 1914: Wie war die Stimmung in der Stadt an jenem verhängnisvollen Tag vor genau 100 Jahren, an dem das deutsche Kaiserreich Russland den Krieg erklärte und somit der Erste Weltkrieg Einzug hielt? Hans-Werner Nierhaus (65), ehemals Geschichtslehrer am Otto-Pankok-Gymnasium, schreibt derzeit an einem Buch über das epochale Geschehen – „das hat erstaunlicherweise bislang keiner getan“. Und er berichtet im WAZ-Interview von ersten Ergebnissen seiner umfangreichen Recherchen.

Wie haben die Mülheimer auf die Ereignisse damals reagiert? Welche Einstellung hatten sie?

Sie standen voll hinter dem Kaiser und seinen Entscheidungen – wie eigentlich immer in dieser klassisch bürgerlich geprägten Stadt, wo Protestler vergebens zu suchen waren und es regelmäßig Lob für die mustergütige Verwaltung gab. Dass des Kaisers Wort Gesetz war, zeigen auch die Kommentare in den Zeitungen, zum Beispiel in den ,Vaterländischen Blättern’ des General-Anzeigers: Wörtlich steht da, man müsse nun wirklich mal ,mit den Russen und den kleinen Kläffern auf dem Balkan aufräumen’. In Serbien hatte es ja kurz zuvor das Attentat auf das österreichische Thronfolgerpaar gegeben – und Deutschland war nun mal ein Verbündeter von Österreich. In den letzten Juli-Tagen – als die Kunde von der Kriegserklärung der Österreicher an die Serben vor Ort ankam – war die Stimmung euphorisch. Die Mülheimer gingen bis nachts auf die Straße, die Kneipen waren voll, es wurde gesungen, vor allem Lieder pro Österreich.

Blieb das auch so, als die Mülheimer dann tatsächlich Teil des Krieges wurden, also an jenem 1. August?

Nein, da gab es weniger Hurra und Jubelgesänge. Die Menschen waren gefasster. Sie waren sich ihrer staatstragenden Aufgabe bewusst, ihnen war klar, dass sie jetzt für Deutschland kämpfen müssen. Dazu waren sie aber auch durchaus bereit – man glaubte, die deutschen Werte gegen die Feinde verteidigen zu müssen.

Wie ging es dann weiter?

An der Kaiserstraße – dort wo heute die Hochhäuser stehen – lag das Infanterieregiment 159, eine große Kampfeinheit. Untergebracht war es in der einzigen Garnison des Ruhrgebiets, zusammen mit dem Bezirkskommando und einer Verwaltungseinheit. Dieses Regiment nun wurde am 1. August alarmiert und mobilisiert, und zwar so, wie es die Kriegsgesetze damals vorsahen: durch einen Stoß in eine Trompete auf dem Exerzierplatz. Anschließend hielt der Regimentskommandeur eine Brandrede vor über 1000 Soldaten – und deren dreifaches Hurra auf den Kaiser schallte über ganz Mülheim hinweg.

Und danach?

Am 3. August erschien der Mobilisierungsbefehl in den Zeitungen – und zahlreiche 18-Jährige, die kurz vor dem Abitur standen, meldeten sich freiwillig. Sie konnten noch ein Notabitur ablegen. Auch viele andere Männer, die kurz darauf auf das Schlachtfeld mussten, hatten keinerlei militärische Erfahrung. Sie wurden alle noch schnell an der Waffe ausgebildet. Es ist übrigens ein Mythos, dass Abermillionen junge Kerle freiwillig in Richtung Krieg gezogen sind – das war insgesamt höchstens eine halbe Million.

Was immer noch genug ist. Und die Frage aufwirft: Warum nur ließen sich überhaupt Menschen locken?

Sie glaubten den Sätzen, die sie überall hörten. Kaiser Wilhelm II. zum Beispiel hat in einer Rede am 4. August gesagt: ,Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche – und diese Deutschen sollen mit mir durch dick und dünn, Not und Tod gehen’. Und auch in Mülheim gab’s ausreichend Kriegsbefürworter – ein Hetzer der Extraklasse war Pfarrer Burbach, der auch nicht davor zurückschreckte, von der Kanzel herab für den Krieg zu werben. 1917, als die Begeisterung längst nachgelassen hatte, wurden die zwei großen Glocken der Petrikirche dann eingeschmolzen, um Waffen daraus zu machen – das hatte er dann davon!

Wie bewerten Sie jene Zeit?

Aus heutiger Sicht kann ich nur staunen und erschüttert sein über das, was passiert ist. Bemerkenswert finde ich vor allem, dass die Anlagen für die fürchterlichen Verbrechen des Zweiten Weltkrieges schon damals allesamt vorhanden waren: Man sprach bereits von einem Ermächtigungsgesetz; man setzte endlos viele Kriegsgefangene ein; man glaubte der Propaganda bis kurz vor Schluss. Und genau wie ‘39 bis ‘45 gab es damals bereits diese Fürchterlichkeit eines technologisch totalen Krieges. Und auch damals schon offenbarte sich dieser kriegerische und obrigkeitshörige Charakter vieler Deutscher. . .


Dokumente des Grauens im Stadtarchiv

Sein Buch über Mülheim im Ersten Weltkrieg wird Ende des Jahres fertig sein, hofft Hans-Werner Nierhaus. Er schreibe vor allem über soziologische Aspekte, über das also, was die damalige Zeit mit der Gesellschaft gemacht hat, oder, anders ausgedrückt, was die Gesellschaft mit der damaligen Zeit gemacht hat.

Der 65-jährige Oberhausener hat sich schon früher einmal intensiv mit der Kriegshistorie Mülheims beschäftigt und 2007 ein Buch über die Ruhrstadt im Zweiten Weltkrieg herausgebracht. Als ausgewiesener Experte stand er in diesem Sommer auch den Mitarbeitern des Stadtarchivs bei deren Vorbereitung der Ausstellung „Mülheim im Ersten Weltkrieg“ zur Seite. Sein Schwerpunkt dabei: die Mülheimer Wirtschaft zu jener Zeit.

3500 Mülheimer ließen ihr Leben

Besagte Ausstellung – die flankiert wird von Vorträgen und Workshops – wird im Haus der Stadtgeschichte, Von-Graefe-Straße 37, zu sehen sein, und zwar vom 23. August bis 31. Januar. Gezeigt werden zahlreiche Dokumente der damaligen Zeit, zumeist aus den Beständen des Archivs. Sie sollen Einblick gewähren in die diversen Facetten dieses Kriegs, der durch das mörderische Treiben Jahre später im Zweiten Weltkrieg nahezu in Vergessenheit geriet.

Dabei war das Grauen auch damals schon riesig: 3300 Mülheimer ließen an der Front ihr Leben, 200 weitere erlagen in der Heimat ihren Verletzungen.