Mülheim. Sie flohen vor Verfolgung, Gewalt und Krieg. Die irakische Familie Abdo Khedir und die Derbos aus Syrien leben seit Jahren in einem Mülheimer Übergangsheim. Richtig ankommen sind sie dort noch nicht. Ihre Gedanken sind stets bei denen, die sie zurückließen.
Sie wohnen in Speldorf, seit vielen Jahren, aber wirklich angekommen sind sie in Deutschland nicht. Gedanklich sind sie noch immer in ihrer Heimat, bei ihren Lieben im Irak und in Syrien, die dort von dem bedroht werden, vor dem sie selbst flüchteten: Verfolgung, Gewalt und Krieg. Familie Abdo Khedir und Familie Derbo leben in einem Mülheimer Übergangsheim und versuchen, sich hier eine Zukunft aufzubauen. Doch fällt das schwer, wenn man sich um die sorgt, die man zurücklassen musste.
Als Mourad Abdo Khedir zum letzten Mal mit seinen Verwandten im Irak telefonierte, griff die Terrorgruppe ISIS gerade das Dorf an. Einige Familienmitglieder überlebten dies, die anderen konnten – teils verletzt – in die Berge entkommen. Wie es ihnen und dem dort entbundenen Neugeborenen geht – Mourad Abdo Khedir weiß es nicht und kann vor Sorge an wenig anderes denken. Das eigene Leben scheint stillzustehen, selbst wenn es weitergeht: Die Mülheimer Familie Abdo Khedir hat nach langer Suche endlich eine eigene Wohnung gefunden, kann nach vier langen Jahren aus dem Übergangsheim ausziehen. „Aber man kann sich über gar nichts richtig freuen.“
Ausharren in den Bergen Iraks
Vielleicht fällt die Freude umso schwerer, weil die aktuelle Situation so sehr an selbst Erlebtes erinnert: Die Flucht führte die Familie einst selbst in irakische Berge. Dort harrte sie aus, ohne Wasser und Decken. „Wir konnten tagelang nicht schlafen. Wir hatten nichts.“ Nur Angst. Die Abdo Khedirs sind Jesiden, im Irak eine religiöse Minderheit, die unterdrückt und verfolgt wird. „Wer den Islamisten in die Hände fällt, wird getötet“, sagt der 35-Jährige – und spricht da von den Männern. . .
Drei Kinder haben Mourad Abdo Khedir und seine Frau, das vierte ist unterwegs. Ihnen, sagt er, wünscht er, dass sie „endlich in Deutschland aufgenommen werden“. Denn bisher ist die Familie nur geduldet. Mourad Abdo Khedir versteht das nicht, verweist auf die Situation im Irak, auf seinen Sohn, der nur eine Niere hat und in Deutschland in Behandlung ist: „Ich möchte, dass meine Kinder in Deutschland bleiben dürfen. Hier sind sie sicher.“
Flucht per Boot aus Syrien
Familie Derbo hingegen ist bereits in Deutschland anerkannt. Eine Sorge weniger, doch es bleiben immer noch genug. Aus Syrien stammen die Derbos – und dort, sagt Anoar Derbo, würden Menschen, die wie er Jesiden sind, stets als Menschen zweiter Klasse behandelt. „Nicht einmal einen Ausweis hatten wir“, berichtet der 39-Jährige, „den haben wir erst bekommen, als sie anfingen, uns zu quälen.“
Letztlich waren es die Rekrutierungstrupps der Rebellen, die die Familie trieb, ihre Heimat zu verlassen. „Meine Frau war da schwanger, auf der Flucht hat sie ihr Baby aber verloren“, sagt Anoar Derbo. Auf einem Schiff fuhren sie mit anderen Flüchtlingen gen Italien. Vor der Küste geriet das jedoch in Schieflage, drohte zu kentern, bis die Flüchtlinge per Handy Hilfe riefen.
Seit fast zwei Jahren im Übergangsheim
Auch seine Geschwister flüchteten, der Bruder in die Türkei, die Schwester in den Irak – „dort geht es ihr auch nicht besser“. Zurück in Syrien blieb seine blinde Mutter. Sie möchte Anoar Derbo nun unbedingt auch nach Deutschland holen, doch das scheitert bisher an der Krankenkasse. Alle anfallenden Kosten für Behandlungen bei Ärzten und Krankenkassen müsste Derbo selbst tragen. Sein Traum von einem reichen Gönner, der ihm aushilft, ist aber kaum realistisch.
Seit fast zwei Jahren leben die Derbos in dem Übergangsheim – seit einem Jahr suchen sie bereits eine Wohnung, die Raum für die Eltern sowie ihre vier Kinder bietet und dabei erschwinglich ist. Bisher scheint beides nicht zusammenzukommen. Doch die Derbos geben nicht auf, dazu haben sie bereits zu viel durchgemacht.
Enges Netz in Speldorf geknüpft
Offiziell heißt es „Übergangsheim“. Dieser Übergang, das zeigt Familie Abdo Khedir, kann jahrelang dauern. Seit 2010 leben die Iraker bereits in Speldorf. Laut Peter Sommer ist das normal. Als Teamleiter der Zentralen Wohnungsfachstelle weiß er: „In den ersten 36 Monaten dürfen Flüchtlinge gar keine Wohnung anmieten.“ Also werden sie in Übergangsheimen untergebracht.
Normale Häuser sind das, wie etwa jene, die derzeit in Styrum dafür umgebaut werden. Dort sorgten die Pläne der Stadt – auch aufgeheizt durch die rechte Szene – für Aufregung (wir berichteten). Speldorf hingegen ist die Ruhe selbst: Dort werden in zwei städtischen Gebäuden seit vielen Jahren Flüchtlinge untergebracht. „Die Nachbarn begegnen ihnen zum großen Teil sehr wohlwollend“, sagt Petra David. Sie leitet die Kinderbetreuung der Awo vor Ort. „Eine Nachbarin, die nun weggezogen ist, hat immer gemeinsam mit den Kindern den Vorgarten gepflegt“, so Petra David. Zudem würden regelmäßig Kleiderspenden abgegeben. Dass die ankommen, beweist Anoar Derbo, der sich ausdrücklich für diese Spenden bedankt und betont: „Frau David ist uns eine große Hilfe.“
Ausziehen aus dem Übergangsheim schwer
Voll des Lobes sind die Familien auch für die zwei Ehrenamtlichen, Andrea und Nora, die für sie erste Ansprechpartner sind. „Sie kümmern sich auch um unsere Kinder“, sagt Mourad Abdo Khedir und meint, dass die Damen Kontakt zu Sportvereinen herstellen, damit die Kinder Fußball spielen und Schwimmen lernen können. „Sonst könnten wir uns das nicht leisten.“
Einmal in der Woche schaut auch eine Mitarbeiterin des Kommunalen Sozialen Dienstes (KSD) vorbei, um etwa offizielle Briefe zu erklären und beim Umgang mit Behörden zu helfen. Dieses enge Netz, bestehend aus Ehrenamtlichen, freien und städtischen Fachleuten, wird auch in Styrum geknüpft, verspricht Peter Sommer. Das vermittle auch den Bewohnern Sicherheit. Einigen falle da das Ausziehen aus dem Übergangsheim schwer. Doch das, sagt Sommer, sei letztlich „ein Weg in die Normalität“. Familie Derbo würde den gerne gehen, sucht allerdings seit einem Jahr vergeblich eine für sechs Personen geeignete und erschwingliche Wohnung. Wer da helfen kann, kann sich bei Petra David melden: 45 003 660.