Mülheim-Saarn. Ein Leben nur noch für den Widerspruch: Ernst Herrmann musste kurz nach Weihnachten 1944 als 16-Jähriger an die Front, dann folgten 1250 Tage Gefangenschaft in Russland. Bis heute kämpft der 86-Jährige aus Mülheim-Saarn um eine Rentenentschädigung wegen seiner Kriegsverletzungen und -entbehrungen.

86 Jahre alt ist Ernst Herrmann nun. Der Zweite Weltkrieg und seine Folgen haben den Senior aus Saarn sein Leben lang nicht losgelassen. Jahrzehnte hat Ernst Herrmann um einen Schadensausgleich für seine gesundheitlichen Probleme gekämpft, deren Ursachen er in der Zeit der Kriegsgefangenschaft in Russland sieht.

Verbittert und einsam steht Herrmann heute da. Aktenordner füllen sich mit Gutachten und Gerichtsurteilen. Herrmann zittern Hände und Stimme, wenn er seine Niederlagen im Kampf um Gerechtigkeit, wie er es nennt, Revue passieren lässt. Eine Geschichte über jemanden, der an seinem Lebensabend keine Ruhe findet.

Mit 16 zum Volkssturm

Mit 16, noch kurz vor Beginn des letzten Kriegsjahres, nach Königsberg in den Kampf gegen die Rote Armee einberufen, nach der Kapitulation drei Jahre Kriegsgefangenschaft, zuletzt im kasachischen Straflager von Spassk: Herrmann hat das Schicksal vieler deutscher Soldaten durchlebt, die von Hitler-Deutschland auch dann noch an die Fronten geschickt wurden, als der unsägliche Krieg längst nicht mehr zu gewinnen war.

Herrmann macht die Kriegszeit verantwortlich für einige schwere Leiden, die ihn erst behinderten, 1986 dann gar, mit 58, zur Aufgabe seiner kleinen Druckerei an der Michaelstraße in Speldorf zwangen. Seither fühlt sich der gebürtige Ostpreuße um eine Rentenentschädigung in angemessener Höhe betrogen, gegen ihn sei „ein Komplott“ geschmiedet.

Ein notdürftig versorgter Unterarmbruch, auch offene Quetschungen an anderen Gliedmaßen zu Zeiten der Strafarbeit in Gefangenschaft haben dem heute 86-Jährigen fortan Schmerzen bereitet. „Ich wache nachts mehrmals auf vor Schmerzen“, erzählt der in Windtken bei Allenstein geborene Senior. „Ich muss dann in der Wohnung umherlaufen und abwarten, bis die Schmerzattacke abgeklungen ist.“ Die Nervenschmerzen, ist Herrmann sicher, sind auch Resultat seiner attestierten Unterernährung bei der Entlassung aus der Gefangenschaft 1948.

Auch sein Hausarzt hat die neuropathischen Schmerzen, ausgelöst von Nervenschädigungen, gemessen. Sie ziehen sich durch den gesamten Körper. Nur: Dessen Ursache lässt sich, so viele Jahre nach dem Krieg, nicht mehr genau bestimmen. Für Ernst Herrmann hingegen steht fest: Ursache sind die Kriegsverletzungen und -entbehrungen.

Schon in den 1980er-Jahren reicht Herrmann Klage beim Sozialgericht ein. Er hält eine ihm bewilligte Erwerbsminderungsrente in Höhe von 30 Prozent, die ihn im Alter am Existenzminimum leben lässt, für unzureichend. Er fordert eine Aufstockung, dazu eine Berufschadensausgleichsrente für seinen vorzeitig erzwungenen Ausstieg aus dem Berufsleben. Der Landschaftsverband Rheinland verweigert ihm dies bis heute, es geht um Nachzahlungen im sechsstelligen Euro-Bereich.

Niederlage am Landessozialgericht

Fachärzte und Gutachter, einer nach dem anderen, geben Stellung zum Fall ab. Am Ende, nach 40 Jahren Kampf um die Anerkennung der Kriegsfolgeschäden, führt Herrmann eine durchnummerierte Liste mit 70 Befunden, Stellungnahmen, Gutachten. Der Erfolg blieb aus, von Widerspruch zu Widerspruch, Klage zu Klage, Berufung zu Berufung, zuletzt vor dem Landessozialgericht.

Das Gericht teilt die Einschätzung eines Gutachters von vielen, der die Ursache für Herrmanns Schmerzattacken nicht in der Kriegzeit zu verorten sieht. Auch eine posttraumatische Belastungsstörung, herrührend aus der Zeit des Krieges und der Gefangenschaft, sei nicht zu attestieren. Vielmehr sei es so, dass Herrmann eher dann „die emotionale Kontrolle verliere“, wenn die Auseinandersetzung mit dem Versorgungsamt um seine Rente zur Sprache komme. Ein Gutachten, das Herrmanns Sicht zwischenzeitlich mal gestützt hat: revidiert.

Hausarzt sieht im Fall schwere Tragik

Herrmanns Hausarzt Dr. Peter Ramme sieht im Fall eine schwere Tragik: „Natürlich hat Herr Herrmann einiges durchgemacht, hat im Lager Traumatisierungen erlebt, seine Gesundheit hat Schaden genommen, er ist misshandelt worden. . .“ Doch sei so viele Jahre später schlichtweg nicht nachzuweisen, dass seine heutigen Leiden ihre Ursache tatsächlich in der Kriegszeit hätten. Nach dem Krieg etwa habe Trauma-Therapie überhaupt keine Rolle gespielt. „Da hatte jeder mit sich selbst genug zu tun. Die Heimkehrer mussten sich ins Arbeitsleben integrieren und eine Existenz aufbauen – das war vorrangig.“

Herrmanns Fall sei juristisch ausgereizt, sagt der Mediziner. Es sei „ein trauriges Schicksal“, dass der 86-Jährige seinen Lebensabend nicht wie andere genießen könne, sondern nur mehr dafür lebe, dass ihm vielleicht doch noch „Gerechtigkeit“ widerfahre.

„Ich bin ein unbescholtener Bürger und habe im Krieg mein Leben für dieses Land eingesetzt. In der heutigen Demokratie werde ich für einen Simulanten gehalten, beschimpft und gedemütigt. Dadurch ist meine Würde sehr verletzt“, hat Herrmann im April 2013 noch einmal an den Landschaftsverband geschrieben. Herrmann lebt nur noch für seinen Widerspruch, sagt: „Ich kann nicht anders. Ich muss weitermachen.“ Mehr ist dem 86-Jährigen nicht geblieben: das Gefühl von unermesslich großer Ungerechtigkeit.

Dieser Tage hat er die Bundeskanzlerin im Fernsehen wieder von Menschenwürde reden hören. Für Herrmann ein Hohn.

„Ich habe viele Menschen sterben sehen, das ganze Elend“ 

16 Jahre jung ist Herrmann, als er am Tag nach Weihnachten 1944 zum Volkssturmbataillon ins ostpreußische Königsberg einberufen wird. Einen Monat später ist er zur Absicherung der riesigen Flüchtlingsströme vor der nahenden Roten Armee in Bunkern auf der Frischen Nehrung stationiert. „Ich habe viele Menschen sterben sehen, das ganze Elend“, erinnert er sich heute.

Tieffliegerbeschuss. Zurück ins mit Flüchtlingen überfüllte Pillau. Herrmann erlebt den hoffnungslosen Verteidigungskampf um Königsberg und Pillau. Am 9. April kapituliert „die Festung Königsberg“. Herrmann mittendrin. Gefangenschaft.

Bewusstlos geschlagen und ausgeraubt

„Ich wurde bewusstlos geschlagen, bin auf Strümpfen rausgetorkelt aus der Einheit“, erzählt der 86-Jährige von der Gefangennahme und dem Weg zum russischen Brückenbataillon bei Königsberg, in das er zunächst eingeteilt wird. Da ist er bereits ausgeplündert. Die Stiefel weg, „ein Löffel und ein Esstopf waren alles, was ich behalten habe“.

Zwangsarbeit. Eines Tages steht wieder ein großer Kessel zur Verladung von Brückenteilen bereit. „Mit anderen musste ich eine kurze Schiene unter den Kessel schieben“, erinnert sich Herrmann. Doch plötzlich rollt der Kessel auf die Soldaten zu. Herrmann hat noch Glück, während einer seiner Kollegen bei dem Unfall stirbt. Er selbst erleidet einen Unterarmbruch, eine Hand-, Brust- und Wadenquetschung. „Einigermaßen gesunden“ kann er in einem litauischen Kriegsgefangenen-Lazarett. Dort wird er auch noch wegen einer feuchten Rippenfellentzündung punktiert. Seither klage er über Gelenkrheumatismus, so der Saarner.

300 Gramm Brot Tagesration pro Mann

Übergangslager. Arbeitslager. Schließlich: Strafkompanie. In zwei Waggons à 25 Mann geht’s im Oktober 1946 nach Dscheskasgan in Kasachstan, weit östlich des Urals. 300 Gramm Brot Tagesration pro Mann, nach Protest ein Eimer Wasser – für alle. Später muss Herrmann wie Tausende andere im Straflager von Spassk bei Karaganda schuften.

1948 wird er entlassen, nach 1250 Tagen in Gefangenschaft. Wegen Unterernährung wird er im Krankenhaus Glücksstadt aufgepäppelt, bevor endlich ein neues Leben beginnen kann.