Mülheim. Laura de Wecks Stück „Archiv des Unvollständigen“ stieß beim Publikum auf sehr kontroverse Reaktionen. Die Schweizer Autorin lotet darin die Grenzen der Sprache aus.

Es ist schon erstaunlich, wie kontrovers das Publikum Laura de Wecks „Archiv des Unvollständigen“ reagiert. Während die Einen zum Schluss vernehmbar seufzen und rasch das Weite suchen, zeigen sich die anderen beglückt: ein Bravo ist zu hören, einige würden sich das Stück am liebsten noch einmal ansehen oder sprechen von dem Zauber, den dieses Stück als erstes überhaupt bei der 39. Auflage des Stückefestivals verbreitet habe. Doch worin der besteht, das wird auch nach dem Publikumsgespräch, das zu führen Tilmann Raabke erkennbar Spaß bereitete, nicht so recht deutlich. Die Autorin und Regisseur Thoma Luz geben sich immerhin Mühe, ihr Anliegen verständlich zu machen.

DAS STÜCK

Die Schweizer Autorin versucht, die Grenzen der Sprache auszuloten. Wo versagt die Sprache, weil dem Sprecher nur Floskeln einfallen, die die wahren Gefühle nicht mehr transportieren, weil sie schon so abgenutzt sind. Wenn es etwa um Tod, Liebe oder Krankheit geht. Aber es geht ihr auch um die Redundanzen, Füllwörter wie „irgendwie“. In einer Szene reduziert der Schauspieler Eike Jon Ahrens konsequent die Sprache: streicht die Adverben (nicht mehr „furchtbar aufgeregt“), dann die Adjektive („nicht mehr „die knisternden, züngelnden Flammen“), danach die Pronomen und am Ende hat er nur noch die Artikel „der, die, das“. In einer anderen Szene sinniert Hanna über ihre Sprachlosigkeit. Gerne würde sie mit Sarah reden, weiß aber nicht was. Das sei ihr schon immer so gegangen. „Die, die reden können, denken nicht, und die, die denken können, reden nicht“, folgert sie einmal. Welche Elemente machen einen Dialog aus, welche gehören zu einem Schauspiel? „Eine Liebesgeschichte. Zwei, wenn es das Budget erlaubt“ - der Lacher an dieser Stelle ist garantiert. Und dennoch klingt alles sehr lehrbuchhaft und hölzern. Lakonisch, nennen das die Befürworter und wollen sogar auf Ironie gestoßen sein. Hinzu kommen mehr oder weniger authentisch Beispiele von Sprachversagen wie etwa die Geschichte der stummen Zwillinge June und Jennifer Gibbons (*1963) aus Wales. Erst als die eine der beiden starb, konnte die andere sprechen. Klingt eindrucksvoll, ist bei de Weck aber auch nicht besser als der Wikipedia-Text. Auch Oliver Sacks hat über den Fall schon geschrieben. Eine Klammer bildet die Geschichte des amerikanischen Komponisten Charles Ives, der mit seiner Universe-Sinfonie förmlich die ganze Welt zum Klingen bringen wollte. Ein absurdes Unterfangen.

DIE INSZENIERUNG

Ja, F. R. David hat es 1982 auf den Punkt gebracht. Die Wörter kommen nicht leicht. Wie kann die Liebe noch ausdrücken? Braucht man immer neue Superlative? „Words“ hieß der Hit, der in den deutschen Charts auf Nummer 1 rückte und sich 8 Millionen Mal verkaufte. Die fünf Schauspieler des Oldenburgischen Staatstheater tragen Kopfhörer. Der Song ist entfernt zu hören. Die Schauspieler singen immer nur „Words“ mit. Wie groß die Liebe sei? Vom Tiefseegraben bis hinauf zu den Gletschern heißt es einmal in dem Stück.

Die fünf Schauspieler sind offenbar die Mitarbeiter des Archivs und gehen auch entsprechend nüchtern und sachlich mit dem Gegenstand ihres Interesses um. Einer ist erkennbar der Chef, eine offensichtlich schon eine langjährige Mitarbeiterin, die auch schon mal schallende Ohrfeigen verteilt. An der Bühnenwand befinden sich sechs Aufnahmekabinen, an den Wänden hängen lauter Zettel und Bilder. Im einer solchen Kammer wird am Ende der Tod von Charles Ives nachgestellt. Eine Szene, in der sich die ganz Sprachlosigkeit verdichtet. Die Box ist dann die einzige, die erleuchtet ist, wodurch dann mit der Musik tatsächlich ein eindrucksvolles Bild entsteht.

DIE STÄRKE

Das Stück, das de Weck im Untertitel einen „Sprachmusikabend“ nennt, gewinnt durch die Aufführung, durch das Spiel, besonders aber auch durch die Musik. Sie hat es mit Thom Luz auch zusammen entwickelt. Vor allem Johann Sebastian Bach erklingt, der wahrlich zauberhaft ist. Über der Vollendung der Kunst der Fuge ist er gestorben. Arthur Honegger hat sie vollendet. Wo die Sprache versagt, kann die Musik erklingen. Sie ist ein universelles Kommunikationsmittel, ganz ähnlich wie das Theater. Musizieren, sprechen und spielen gleichzeitig verlangt den Schauspielern einiges ab, was nicht auffällt.

DIE SCHWÄCHE

Es ist schon der belehrende Ton, der stört. Mehr Gefühl oder gar Pathos müsste gar nicht sein, wonach Raabe bohrend das Publikum befragt. Doch die Kritiker bleiben dieses Mal stumm. Ist denn das Liebesbekenntnis tatsächlich so abgenutzt, dass Liebende gar nicht mehr wissen, was sie einander sagen sollen? Ist es nicht vielmehr so, dass sich das Glück erst richtig einstellt, wenn dieser floskelhafte Standardsatz endlich formuliert oder in späteren Jahren bekräftigt worden ist?

DAS WETTBEWERBSBAROMETER

Äußerst wechselhaft.