Mülheim. Wenngleich Christa Greiß viele verstörende Erinnerungen an die Kriegszeit hat, zum Beispiel die an abgeschossene Flieger, deren Leichen sie sah, war die Zeit bis 1945 nicht nur schlecht. Alle überlebten, das Haus blieb bewohnbar, der Vater war daheim. Ein Art Alltag lief trotz aller Not weiter.

Krieg herrschte während der gesamten Grundschulzeit von Christa Greiß, die als Mädchen Oberscheven hieß. Verstörende Erinnerungen blieben, doch sie und ihre Familie hatten auch seltenes Glück: Alle überlebten, das Haus blieb bewohnbar, der Vater daheim. Ein halbwegs geregelter Alltag lief trotz allgemeiner Not weiter, ihre Kindheit fand die heute 78-Jährige schön.

Aufgewachsen ist Christa Greiß mit ihren Eltern, Großeltern und kleiner Schwester an der Gracht Nummer 63. „In unserer Gegend haben alle überlebt“, sagt sie, „wir waren auch nie ausgebombt.“ In Mülheim verbrachte sie die Kriegsjahre, mit Ausnahme einer kurzen Evakuierung, die sie nicht mehr genau datieren kann. „Wir wohnten eine Zeit lang in einem Bauernhof-Hotel in Österreich, Tirol.“ Sie erinnert sich, dass sie dort unerwünscht waren, ihre Mutter von den Einheimischen feindselig behandelt worden sei und einige Male sehr heftig geweint habe.

Der Vater profitierte von seinem „kriegswichtigen“ Beruf

Der Vater blieb zu Hause, er profitierte von seinem „kriegswichtigen“ Beruf als Kernmacher und Former bei Thyssen in Essen: „Sie stellten Munition her, darum wurde er nicht eingezogen.“ Die schweren Bombenangriffe auf Mülheim stand die damals achtjährige Christa im Luftschutzkeller durch, die Dunkelheit, die Nässe, die Furcht bleiben lebenslang unvergessen: „Wir lagen im Trainingsanzug im Bett und rannten los, wenn Alarm kam.“

Für Notfälle hatte der Vater mit anderen Männern den heimischen Keller vorbereitet, einen Durchbruch geschaffen zum Nebenhaus. Hier harrte die Familie auch in der katastrophalen Bombennacht des 22./23. Juni 1943 aus. „Als endlich Entwarnung gegeben wurde, ging ich hinten auf den Hof und sah, wie die Augenklinik lichterloh brannte. Ganz furchtbar!“

Kinder entdeckten Leichen amerikanischer Soldaten

An einem anderen entsetzlichen Tag entdeckten die Kinder die Leichen amerikanischer Soldaten, die über einem nahegelegenen Feld abgeschossen worden waren: „Wir sahen die toten Männer dort liegen und hatten Angst. Aber unsere Mütter haben die Fallschirme geholt und aus der Seide Kleidchen für uns genäht.“ Dass sich Erwachsene, vom Mangel getrieben, rücksichtslos bedienen, musste Christa Greiß häufiger erleben. Für das Kind eine verwirrende Erfahrung.

Einmal hätte der Vater aus einem zerstörten Haus am Mühlenfeld Holz entwendet, um damit zu heizen. „Das durfte man ja nicht, das war Plündern.“ Selbst an Weihnachten war nicht mehr vieles heilig. Nach einer Nachtschicht im schwer bombardierten Essen kehrte Papa mit Spielsachen heim, die er in einem zerstörten Kindergarten gefunden hatte und nun seinen Töchtern zum Geschenk machte: „Er hatte dort Holzspielzeug mitgenommen, daran kann ich mich noch gut erinnern.“

„Zu Weihnachten gab’s nur, dass die Puppe neu angezogen wurde“

Wohl auch, weil die Bescherung in den anderen Kriegs- und Nachkriegsjahren viel ärmlicher ausfiel: „Zu Weihnachten gab’s nur, dass die Puppe neu angezogen wurde. Meine Mutter hat die Sachen selbst genäht.“ Ihr Zelluloid-Baby Ursula, das sie als Zweijährige bekam, bewahrt Christa Greiß immer noch liebevoll auf.

Die Jahre ab ‘45 in der zerstörten Stadt waren geprägt vom Hunger. „Ich habe stundenlang angestanden für gelbes Maisbrot, und als ich dran kam, war alles weg.“ Die Mutter fuhr zum Hamstern ins Münsterland, schleppte schwere Kartoffelsäcke heran, gelegentlich gab es ein Stückchen Speck. Quälend: Der Anblick eines Nachbarmädchens mit Butterbrot in der Hand, „und ich hatte Hunger, aber die Mutter konnte mir nicht mal eine Möhre geben, weil sie die fürs Mittagessen brauchte“. Später gab es die Schulspeisung und einmal pro Woche einen Riegel Schokolade. „Da hineinzubeißen“, sagt Christa Greiß, „war so ein Genuss, das kann man sich heute überhaupt nicht mehr vorstellen. . .“