Mülheim. .
Am ersten Schultag begann für sie eine lebenslange Freundschaft. Jetzt, 80 Jahre später, trafen sich zehn Mülheimer Klassenkameradinnen zu einer Jubiläumsfeier. Im Drago Restaurant am Uhlenhorstweg stießen sie auf ihren Schulabschluss im März 1944 an.
Sie alle besuchten die einstige Mädchenmittelschule, die heute die Realschule Stadtmitte ist. Ihre Schulzeit während des Zweiten Weltkriegs hat die betagten Damen (Jahrgänge 1927 und 1928) zusammengeschweißt. Daher dauerte es nicht lange, bis sie nun bei ihrem Wiedersehen in Erinnerungen schwelgten. Dabei lachten sie herzlich, und eine gemeinschaftlich erzählte Anekdote jagte die nächste.
Die schönsten Geschichten und Streiche spielten jedoch in dem Dreivierteljahr vor ihrem Abgangszeugnis. Die Mädels von damals waren aus Mülheim evakuiert und lebten in einer Skihütte im ostböhmischen Wildenschwert (Usti nad Orlici, Tschechien), um ihren Abschluss zu machen.
Die englische Lady
Besondere Anerkennung zollten die Klassenkameradinnen ihren Lehrern, vor allem „Miss Chemnitz“. Weil sich die Dame aus Schleswig-Holstein gebärdete wie eine englische Lady, übersetzte ihre Klasse die sonst übliche Anrede Fräulein kurzerhand ins Englische. Die Schülerinnen erinnern sich an sie als „große Erscheinung“. „Sie war sehr mutig“, erzählte Ruth Becker. „Sie hat uns zu der Zeit Heinrich Heine nähergebracht.“
Zudem möchte sie offenkundig die Uniformen des Bundes Deutscher Mädel nicht in ihrer Klasse. Dass die Mädchen zu selbständigen Frauen werden, war ihr äußert wichtig. Aber zu Frauen mit Stil und Manieren, verrät Helga Bomberg. „Als ich mich mal beschwerte, dass es heiß war und ich schwitze, sagte sie: ,Ein Pferd schwitzt. Ein Mann transpiriert. Und einer Dame ist etwas warm.‘“
Ausgebüxt aus dem Schlafsaal
Auch wenn sie in der Skihütte rund 600 Meter über Wildenschwert viel büffeln mussten, die insgesamt 36 Teenagerinnen büxten oft aus dem Schlafsaal aus und schlichen sich ins Dorf hinunter, wo sie sich mit Jungen trafen. „Wir hatten unheimlich viel Spaß und haben unheimlich viele Streiche gespielt“, sagte Helga Bomberg lachend.
Mittelschule: Vorläuferin der Realschule
Die Mittelschule ist der Vorläufer der heutigen Realschule Stadtmitte.
Gegründet wurde die Mädchenmittelschule in Mülheim 1917, das Pendant für Jungen vier Jahre später. Sie entstanden, weil die städtischen Gymnasien überfüllt waren.
Zunächst wurde in Ausweichquartieren unterrichtet, bis die Stadt 1929 den Neubau an der Oberstraße einweihte.
Zu dem Zeitpunkt hatte die Schule insgesamt 500 Schülerinnen und Schüler, die in beiden Gebäudeflügeln voneinander getrennt untergebracht waren.
Beim unerlaubten Skifahren brach sich eine Klassenkameradin die Rippen und wurde erfolgreich zu zwei Tagen Schweigepflicht verdonnert, damit der Ausflug nicht auffiel. Miss Chemnitz ertappte sie dagegen nach dem verbotenen Besuch des Films Paracelsus. Inspiriert durch die Szene einer Selbstgeißelung, führten die Schülerinnen in der Hütte einen „Feixtanz“ auf, wirbelten die Haare umher und lachten lauthals. Das fassungslose und entsetzte Gesicht ihrer Lehrerin ist den Seniorinnen bis heute unvergessen.
Unter Tieffliegerbeschuss
Obwohl der Zweite Weltkrieg tobte, seien alle Klassenkameradinnen größtenteils von ihm verschont geblieben, heißt es einhellig. Sie hätten „wie unter einer Glasglocke gelebt“ und sich in Wildenschwert größere Freiheiten herausgenommen als sie es bei ihren konservativen Eltern gewagt hätten.
Auf der Rückfahrt 1944 geriet ihr Zug allerdings unter Tieffliegerbeschuss, als er sich dem Ruhrgebiet näherte. „Der Zug hielt an, wir stürmten heraus und wir warfen uns unter den Zug zwischen die Gleise“, sagte Ruth Becker. Sie hörten eine Maschinengewehrsalve, splitterndes Glas und Holz, aber das Flugzeug flog weiter und alle kamen heil zu Hause an. Seitdem sind sie in Kontakt geblieben und versuchen auch im hohen Alter, sich einmal im Jahr in Mülheim zu treffen. Sie hoffen, dass sie auch das nächste Jubiläum noch zusammen feiern können.