Wenn Gebhard Lürig sich erinnern wollte, woher seine Schulform kommt, der Leiter der Realschule Stadtmitte müsste in seinem Büro nur zu Boden schauen, auf das ehrwürdige Parkett. Oder auf die fast schon wurmstichige Bücherwand hinter seinem Rücken. Auf sein hölzernes Stehpult oder auf seinen Respekt gebietenden Schreibtisch. So etwa 100 Jahre hat das Direx-Zimmer schon hinter sich, das einst die Lehrerbibliothek war. Es sieht so aus wie Schulen früher hießen. Höhere Töchterschule, Rektoratsschule, Mittelschule. Das klingt nach Karzer und Pedell, nach Penne und Pennälern und war doch schon nicht mehr real, als Realschulen längst sehr reelle Schulen waren, die die sprachlich eigenwillige Mittlere Reife bescheinigten und Schüler in die berufliche Praxis entließen. Lürig gefällt es, in diesem Antiquariat zu arbeiten.

Es ist ein nostalgischer Kontrapunkt zur Wirklichkeit.

„Unser Ziel ist es heute, den Schülern alle Wege offenzuhalten“, sagt Wolfgang Dahmen. Dahmen ist Leiter der Realschule Broich und er macht dieselben Erfahrungen wie Lürig und wie Judith Koch von der Realschule Mellinghofer Straße. Schüler wie Eltern fragen bereits bei den Anmeldungen nach der Möglichkeit, von der Realschule zum Gymnasium zu wechseln. „man muss da gar nicht um den heißen Brei herumreden“, sagt Koch: „Die Eltern wollen auf diese Weise G8 vermeiden.“ Immer mehr wollen das, bei den Anmeldungen vor 14 Tagen so viele wie noch nie. „Ich habe noch nie so viele gute Zeugnisse gesehen wie in diesem Jahr“, sagt Lürig. Und noch nie so wenige, die an der Hauptschule gekratzt hätten. Eine Handvoll vielleicht, das sagen auch Koch und Dahmen. Für sie alle ist das ein Beleg dafür, dass Eltern, deren Kinder im Grenzbereich zwischen Realschule und Gymnasium stehen, sich zunehmend für die Realschule entscheiden. Oder für die Gesamtschule.

Fließende Übergänge

Das hat Folgen. Zunächst zählbare. Bei den Anmeldungen haben die drei Realschulen ihren Anteil an den Neuschülern ausgebaut und werden im Sommer 12 neue Klassen füllen können. Das allein ist noch kein Beweis für gute Arbeit; die Schulwahl ist kein Fußballspiel, am Ende gibt es weder Gewinner noch Verlierer. Festzuhalten aber ist, das zeigt ein Blick ins Umland, dass die Situation der drei Mülheimer Realschulen eine besondere ist. In den meisten Städten - die ebenfalls noch eine Hauptschule haben - brechen die Schülerzahlen weg. „Irgendwas machen wir wohl richtig“, meint Lürig dazu diplomatisch, verschweigt aber auch nicht die Anstrengungen, die die Situation mit sich bringt.

Wenn am anderen Ende, mit dem Abgangszeugnis in der Hand, für Schüler das Berufskolleg tendenziell weniger Attraktivität hat, die Berufsausbildung noch eine starke, ein kräftiger Trend aber zur gymnasialen Oberstufe geht, dann hat das Folgen für Schulprogramm und Schulalltag. Die zweite Fremdsprache, Französisch, hat den Realschulen ein Billet für die höhere Reife an die Hand gegeben. Bilinguale Zweige sind dazugekommen, die MINT-Fächer, also die mathematisch-naturwissenschaftliche Prägung. Was aber, wenn die Realschule immer mehr zu G9 mit anderen Mitteln wird? Wenn immer mehr Eltern erkennen, dass die Verdichtung auf G8, ein Webfehler des Gesetzes, ausschließlich in den unteren Jahrgängen stattfindet, nicht aber in der Oberstufe?

Dahmen und Lürig haben längst ans Gymnasium angedockt, um den Übergang fließend zu gestalten, die Realschule Broich an Karl-Ziegler, die Realschule Stadtmitte an Otto-Pankok. Die Erfahrungen von Schnupperunterricht und gemeinsamen Kursen ist gut, hängt aber an einer ausreichenden Zahl von Lehrern. Koch ist da im Hintertreffen, ihr fehlen Kollegen. Noch. Ein weiterer Baustein ist die Schulsozialarbeit, die immer noch projektfinanziert ist, in ihren positiven Wirkungen aber ebenso wenig überschätzt werden kann, wie die Anbindung an das U25-Büro der Stadt, das Schülern weitere Wege ebnet.

Mittlere Reife? Lürig mag ein Feuerzangenbowle-Büro haben. Der Weg zurück aber ist durch die Wirklichkeit verbaut. Ende offen.