Mülheim. . Die Mülheimerin Marie-Luise Voll ist blind, was in ihrem Fall keine Behinderung, sondern eine Begabung ist. Ihr ausgeprägter Tastsinn hilft, Brustkrebs bei Frauen früher zu erkennen, als es Apparate können. Sie ist eine von nur 18 Tastuntersucherinnen deutschlandweit.

Marie-Luise Voll weiß eigentlich schon beim ersten Händedruck, was sie erwartet. Es ist die Genauigkeit ihres Tastsinns, der sie unverzichtbar macht: Seit ihrer Erblindung arbeitet sie als Medizinische Tastuntersucherin in der Brustkrebsfrüherkennung. Sie ist dort besonders erfolgreich, wo selbst Maschinen und Ärzte sich schwer tun – beim Erkennen allerkleinster und potenziell tödlicher Gewebeknoten.

Wer schon einmal versucht hat, die Braille-Schrift auf einer beliebigen Medikamentenverpackung zu ertasten, kann erahnen, wie akkurat Marie-Luise Volls Hände arbeiten müssen. „Wenn man seine Augen noch hat, macht man sich davon einfach keine Vorstellung“, sagt die Mülheimerin, höchst nüchtern. 2002 wurde bei ihr Grüner Star diagnostiziert. Damit war klar: Ihren Job als Krankenschwester in der Chirurgie würde sie aufgeben müssen. Ihr Sehvermögen wurde schwächer, ein, zwei Prozent Augenlicht blieben übrig, bis sie auch dies vor drei Jahren verlor.

Über 700 Patientinnen allein im letzten Jahr

Dass ihre Arbeit in der Krebsfrüherkennung aus einer Behinderung eine Begabung macht, ist für alle ein ziemliches Glück. 700 Patientinnen hat sie allein im letzten Jahr in der Walsumer Frauenarzt-Praxis von Dr. Frank Hoffmann untersucht. „In einem Fall hatte ich eine Unregelmäßigkeit ertastet, die nicht einmal bei der späteren Mammografie sichtbar geworden ist“, sagt sie, „in so einer Situation fühlt man sich bestätigt, dafür bin ich ja hier.“

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Auch die Mülheimerin Heike Gothe, 2010 beidseitig an Brustkrebs erkrankt, verdankt die frühe Erkennung eines nur zwei Millimeter großen, bösartigen Knotens den sehenden Händen von Marie-Luise Voll. „Bei der bildgebenden Diagnostik wäre der Knoten vermutlich durchgerutscht“, sagt sie, „eigentlich verdanke ich Frau Voll mein Leben.“

Brustkrebs bei Frauen zwischen 40 und 44 die Haupttodesursache

Frauenarzt Frank Hoffmann, der aus Mülheim stammt, hatte die Idee zur Ausbildung blinder Menschen vor fast zehn Jahren, als Mammografien für Frauen unter 50 bei den Kassenleistungen rausflogen: „Dabei ist Brustkrebs bei Frauen zwischen 40 und 44 die Haupttodesursache.“ Ihm war klar, dass die Früherkennung bei Jüngeren nun allein von der Tastuntersuchung abhing – eine Routine, die im Alltagsstress der Mediziner selten mehr als flüchtige Sekunden einnimmt.

In Zusammenarbeit mit dem Berufsbildungswerk Düren, das sich um Sehbehinderte kümmert, ­entwickelte Hoffmann ein theoretisches und praktisches Ausbildungsmodul für Blinde, bei dem sie die Technik des Tastens lernen. 30 gründliche Minuten dauert die Untersuchung durch eine Medi­zinische Tastuntersucherin (MTU) wie Marie-Luise Voll. 17 ausgebildete, blinde Kolleginnen hat die 61-Jährige mittlerweile deutsch­landweit – in Duisburg aber ist sie die Einzige. „Manche Frauen ­kommen für die Untersuchung sogar aus der Eifel hierher“, sagt Hoffmann.

„Ich habe mit 55 noch mal ganz von vorne angefangen"

Die Statistik gibt dem Mediziner Recht: „In wissenschaftlichen Vorstudien mit über 500 Frauen konnte nachgewiesen werden, dass die MTUs nicht schlechter, sondern besser tasten als die Ärzte.“

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Für die große Nachfrage gibt es kaum genug Tastuntersucherinnen. „Wenn Blinden Umschulungen angeboten werden, denken die Bildungsträger leider eher an einen Job in der medizinischen Massage als an Krebsprävention“, so der Arzt. Dass die feinfühlige Praxishilfe nicht nur Patientinnen zugute kommt, macht Marie-Luise Voll deutlich: „Ich habe mit 55 noch mal ganz von vorne angefangen, auch Blindenschrift und Computerarbeit gelernt“, sagt sie, „aber ich finanziere mich selbst und brauche kein Geld vom Amt. Dass ich Arbeit habe, bedeutet mir viel.“

Ausland hat großes Interesse an dem Konzept

Das Konzept der blinden Tastuntersucherinnen von Dr. Frank Hoffmann ist längst auf dem Sprung, auch im Ausland ein Erfolg zu werden: In Österreich hat ein Investor eine halbe Million Euro gespendet, um landesweit ein System aus Tastuntersucherinnen aufzubauen. Eine Delegation aus der Türkei hat sich die Arbeit der blinden Frauen im Ruhrgebiet schon angeschaut, im Mai fliegt Hoffmann nach Israel, wo es ebenfalls Interesse gibt. Nur in Deutschland läuft der Ausbau schleppender als erhofft: „Die neunmonatige Ausbildung zur Medizinischen Tastuntersucherin für Blinde hat sich noch nicht überall herumgesprochen“, so Hoffmann.

Doch der aus Mülheim stammende Frauenarzt hegt weiter große Pläne. Für empfindliche Gebiete bei Herren würde er gerne auch männliche Blinde ausbilden lassen, die Knoten ertasten. Wenn man das Projekt zu einer regulären, zweijährigen Ausbildung aufstockt, könnten bald auch andere Organe, wie die Schilddrüse, mit zur Expertise der MTUs gehören. Ausbildungszentren sind bereits in Mainz, Halle und Nürnberg eingerichtet. Sechs Betriebskrankenkassen übernehmen die Kosten einer Tastuntersuchung bereits, für Selbstzahler kostet sie zwischen 45 und 50 Euro.

Das NRW-Gesundheitsministerium ist Schirmherr des Projekts. Infos: www.discovering-hands.de