Mülheim. .
Ich habe in meinem Leben viele schöne Reisen unternommen. Aber die Reise am 21. Dezember 1943 wird in meinem Gedächtnis immer einen besonderen Platz haben.
Nach dem Bombenangriff auf Mülheim im Juni 1943 setzte ich meinen Schulbesuch bei meinen Großeltern in Neumünster/Schleswig-Holstein fort, weil mich meine Eltern – ich war damals zwölf Jahre alt – nicht in die Kinderlandverschickung geben wollten. Die Weihnachtsferien 1943 sollte ich in Mülheim verbringen. Am Morgen des 21. Dezember brachte mich eine Tante zum Zug nach Hamburg-Altona, erklärte mir noch einmal, wie ich in den Fernzug umsteigen müsse, und schärfte mir ein, auf Fahrkarte und Ausweis aufzupassen.
Die Fahrt nach Hamburg verlief planmäßig. In Hamburg wurde die Fahrt durch einen Fliegeralarm unterbrochen, der mich für zwei Stunden in einen Hochbunker in der Nähe des Bahnhofs zwang. Den ersten Fernzug nach Entwarnung verpasste ich wegen Überfüllung. (Wegen der Feiertage waren viele Soldaten auf Heimaturlaub.) In den zweiten, ebenfalls überfüllten Zug kam ich nur hinein, weil mich drei Soldaten, die Mitleid mit mir hatten, durch das offene Abteilfenster in den Zug hoben und zogen. In Dortmund musste ich unerwartet umsteigen. Der Zug, der mich zum Bahnhof Mülheim-Eppinghofen – heute Hauptbahnhof – bringen sollte, fuhr am späten Abend aus welchen Gründen auch immer – nur bis Essen Hauptbahnhof.
Zu Fuß zum Horbachweg
Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob es Geldmangel, fehlende Fahrgelegenheit oder nur jugendlicher Übermut waren, jedenfalls entschloss ich mich, den restlichen Weg nach Hause zum Horbachweg zu Fuß zurückzulegen. (Ich kannte den Weg von der Aktienstraße zur Stadtmitte Essen von früheren Straßenbahnfahrten mit meiner Mutter, die regelmäßig einen Homöopathen in Essen aufsuchte.)
Natürlich verlief mein Fußmarsch mit meinem Koffer und einem selbst gebastelten klappbaren Nähkasten, einem Weihnachtsgeschenk für meine Mutter, nicht reibungslos.
Orientierungslosigkeit
Schnell verlor ich die Orientierung und es erfasste mich eine gewisse Unruhe wegen der Sperrstunde, die ich möglicher weise bereits missachtete. Als ich in Heißen bei dunkler, kalter Nacht auf einer Mauer am Straßenrand Rast machte, sprach mich ein Bergmann an, der von der Spätschicht auf dem Heimweg war. Nachdem ich ihm mein Problem geschildert hatte, entschloss er sich, mich mit in seine nahe gelegene Wohnung zu nehmen.
Die Ehefrau schien über den zusätzlichen Gast nicht sehr erfreut, stellte mir aber ebenfalls eine Portion Bratkartoffeln mit Zwiebeln und ein Glas Wasser auf den Tisch. Geschlafen habe ich dann im Bett des erwachsenen Sohnes, der zur Wehrmacht eingezogen war.
Am nächsten Morgen brachte mich mein Samariter nach einem kleinen Frühstück noch zur Straßenbahn, so dass mich meine besorgte Mutter endlich mit rund achtzehn Stunden Verspätung in die Arme schließen konnte.