Mülheim. .

Anette Dohrmann (66) ist eine erfahrene Gästeführerin, sie kennt Mülheim wie ihre Westentasche. Seit 13 Jahren schon zeigt die ehemalige Volksschullehrerin aus Raadt Gästen von nah und fern die Stadt an der Ruhr, im Auftrag der Mülheimer Stadtmarketing und Tourismus GmbH (MST). Heute geht es um „Mülheimer Kontraste“, historisch gewachsene Wohnformen völlig verschiedener Art.

Start ist Punkt elf Uhr an der Alten Post am Synagogenplatz, erste Station das Projekt „Ruhrbania“ mit der neuen Bebauung an der Ruhrpromenade nebst Gastronomie, direkt hinter dem Rathaus. Anette Dohrmann zeigt ihren knapp 20 Gästen gleich auch den „Stadthafen, der keiner ist“. Von dort geht die Reise in die Friedrichstraße, die Mülheimer früher „Straße der Millionäre“ nannten. Hier bestimmen Unternehmervillen aus der Gründerzeit um 1900 das Bild.

Von der Prunkvilla in die Zechensiedlung

„Vor mehr als 100 Jahren lagen diese Villen außerhalb, am Stadtrand. In dieser Zeit entstanden auf Mülheimer Stadtgebiet rund 80 dieser noblen Villen, viele davon in dieser Straße.“ In diesen großen Einfamilienhäusern lebten auch die Bediensteten, unter dem Dach. „In einer der Villen wurde vor einiger Zeit das neue Hospiz eröffnet.“

Danach geht es einen Hügel herauf in Richtung Holthausen. Hier hält der Bus an der Bismarckstraße vor dem 1913 gebauten „Haus Urge“, der früheren Villa des Indus­triellen Hugo Stinnes jr., mit eindrucksvollem Foyer und Rundbogenfenstern. „Stinnes war der erste Linienreeder, der von Mülheim aus einen Weltkonzern aufbaute.“ Heute beraten in dem neobarocken Herrschaftshaus 50 Mitarbeiter von „Zenit“, „Zentrum für Innovation und Technik in NRW“, den Mittelstand im Land.

Danach steuert der Busfahrer die erste Arbeitersiedlung an, die Bergarbeitersiedlung „Mausegatt“ in Heißen, ein Kontrast. Denn hier wohnten die Kumpel, die auf der letzten Mülheimer Zeche Rosenblumendelle, 1966 geschlossen, beschäftigt waren. Der Bus hält und Walter Schmidt begrüßt die Gäste mit einem fröhlichen „Glück auf!“

Wohnpark auf ehemaligem Kasernengelände 

Der ehemalige Bergmann erscheint am Sonntagmorgen in typisch schwarzem Festtagsanzug. Schmidt hat auch seine Grubenlampe mitgebracht, erklärt den Besuchern Aufbau und Funktion des „Lebensretters“ der Bergleute. Für ein gemeinsames Gruppenfoto vor dem Haus von Walter Schmidt, einem typischen Bergarbeiterhaus aus Ziegelsteinen, ist auch noch Zeit. „Die Bergmannsfamilien bewohnten damals immer nur das halbe Haus, Parterre und erste Etage mit 56 qm Fläche im Schnitt“, berichtet Frau Dohrmann. „Die Familie hatten meistens sechs Kinder: Dazu kamen Kostgänger. Sie schliefen im Bett des Bergmanns, wenn der auf Schicht war. Diese zahlenden Untermieter trugen zum Einkommen der Familie bei.“

Dann geht es auch schon wieder weiter, zum Gelände der ehemaligen Kaserne der britischen Rheinarmee in Holthausen, nahe dem Hauptfriedhof. Die Kaserne wurde 1937 für die Wehrmacht gebaut. Nach Kriegsende kamen die Briten, die 1994 wieder abzogen. Nach einem großen Umbau findet sich hier heute der 16 Hektar Wohnpark „Witthausbusch“, benannt nach einem hier ansässigen Bauernhof. „Hier wohnen heute meist junge Familien. Aber es gibt auch viele barrierefreie Wohnungen.“

Von Holthausen fährt der Kleinbus über die Mendener Brücke und in Saarn die Kölner Straße entlang in den äußersten Südwesten Mülheims, zur Siedlung der Theodor- Fliedner-Stiftung in Selbeck. In dem 1987 eröffneten Wohndorf werden mehr als 600 Behinderte, Demenzkranke und andere pflegebedürftige Menschen rund um die Uhr betreut. „Eine Einrichtung, die von den Angehörigen immer hoch gelobt wird“, weiß Anette Dohrmann. „Hier haben gleich fünf Architekten gebaut, um das Gesamtbild der Siedlung abwechslungsreich zu gestalten.“ Viele Häuser sind in hellen Pastelltönen gestrichen, zitronengelb oder lindgrün, die jetzt freundlich in der Sommersonne strahlen.

Junge Familien in alten Häusern

Es ist nach zwölf, als der Bus wendet, über die Kölner Straße die Saarner Kuppe hinauffährt. „Saarn ist flächenmäßig Mülheims größter Vorort“, lernt man unterwegs. Auf der Kuppe bestaunt die Bus-Besatzung ein Baufeld mit moderner, vielfältiger Architektur: Holzhäuser im skandinavischem Stil, Pultdachhäuser, größtenteils begrünt, flache Bungalows im Stil der 70er Jahre; im Dorfkern aber auch richtig alte Häuser, in denen es sich viele junge Familien gemütlich gemacht haben: „Hier kann man den Wechsel der Generationen gut beobachten“, sagt Anette Dohrmann. Nach wie vor wird hier weiter gebaut.

Schließlich geht’s ein paar Buskilometer weiter den Saarner Berg hinauf. Im Uhlenhorst entdecken die Gäste mitten im Wald die „Villa Küchen“, ebenfalls 100 Jahre alt. Hier residierte einst Millionär Gerhard Küchen, ein Enkel von Matthias Stinnes, bevor 1952 das „Ev. Haus der Begegnung“ in die repräsentative Villa einzog. Nach Eigentümerwechsel ist die Villa Küchen heute die „Residenz Uhlenhorst“, Hotel mit Restaurant. Letzte Station ist die „Beamtensiedlung“, ab 1929 errichtet, auf dem Saarner Berg rund um die Brüsseler Straße. Auf dem Rückweg ist noch Zeit für die Saliersiedlung, auch in der Weimarer Republik gebaut, aber für Arbeiterfamilien der Lederfabriken. Nach zwei Stunden am Ziel bedanken sich viele Gäste bei der Mülheimer Gastgeberin. Anette Dohrmann: „Das waren wieder nette Leute!“