Mülheim. Mutige Jury-Entscheidung: Der begehrte Mülheimer Dramatikerpreis geht dieses Jahr an eine junge Newcomerin. Katja Brunner wird für ein erbarmungsloses Missbrauchs-Drama ausgezeichnet. “Von den Beinen zu kurz“ ist ein alptraumhaftes Stück über Inzest - aus der Sicht des Opfers.

Für ein alptraumhaftes Inzest-Drama wird die erst 22-jährige Schweizer Autorin Katja Brunner mit dem renommierten Mülheimer Dramatikerpreis ausgezeichnet. Die Jury sprach Brunner nach einer öffentlichen Debatte in der Nacht zum Donnerstag in Mülheim/Ruhr die mit 15 000 Euro dotierte Auszeichnung zu. Brunner wird damit für das 2012 in einem kleinen Theater in Zürich uraufgeführte Stück "Von den Beinen zu kurz" geehrt. Der Dramatikerpreis zählt zu den wichtigsten Theaterpreisen in Deutschland.

In dem aus einer unheimlichen Nahaufnahme erzählten Drama geht es um den sexuellen Missbrauch eines Mädchens durch ihren Vater vom Babyalter an. Brunner hat das Stück mit nur 18 Jahren geschrieben. Die Jury lobte einhellig die "Sprachwut" und literarische Stärke Brunners. Das Stück sei von "einer ins Bizarre reichenden Fantasie", sagte die Schauspielerin Wiebke Puls. Für das Auswahlgremium hatte der Theaterkritiker Jürgen Berger gesagt: "Katja Brunner lässt eine Lolita sprechen, die kein Opfer sein will." Die Direktorin der Hamburger Theaterakademie, Sabina Dhein, sagte: "Sie marschiert über jegliche Tabugrenzen hinweg, ohne reißerisch zu sein."

Auch Jelinek und Kroetz waren für den Preis nominiert

Nominiert waren in diesem Jahr acht Autoren, unter ihnen bekannte Dramatiker wie die bereits mehrfach in Mülheim ausgezeichnete Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek sowie Franz Xaver Kroetz und Moritz Rinke. Die aus rund 100 deutschsprachigen Stücken des Jahres 2012 ausgewählten acht Bühnenwerke wurden bei den Mülheimer Theatertagen zumeist in der Uraufführungsversion vorgestellt.

Brunner war erstmals für den seit 1976 vergebenen Preis nominiert. Frühere Preisträger sind neben der bereits viermal ausgezeichneten Jelinek auch Peter Handke (2012), Roland Schimmelpfennig, Botho Strauß, Herbert Achternbusch, Tankred Dorst und René Pollesch.

Publikumspreis für Marianna Salzmann und "Muttersprache Mameloschn"

Auffällig stark war in diesem Jahr das Thema Missbrauch in den Stücken vertreten. Jelinek hatte in dem von ihr als "Sekundärdrama" betitelten Stück "FaustIn and out" den Fall Josef Fritzl, der seine Tochter jahrelang im Keller gefangen hielt, mit Goethes Urfaust und dem Gretchen-Thema verschränkt. Erstmals seit Jahren war auch Franz Xaver Kroetz wieder im Wettbewerb vertreten. Sein umstrittenes Stück "Du hast gewackelt. Requiem für ein liebes Kind" handelt von dem Fall des kleinen Pascal, der in einer Kneipe bei Saarbrücken missbraucht und wahrscheinlich auch ermordet wurde.

Den Mülheimer Publikumspreis 2013 bekommt die russischstämmige Marianna Salzmann für ihre Komödie "Muttersprache Mameloschn" über einen jüdischen Frauenhaushalt. Der mit 10 000 Euro dotierte Mülheimer Kinderstückepreis wurde bereits Mitte Mai Thilo Reffert für das Stück "Nina und Paul" - eine Liebesgeschichte zweier Zehnjähriger - zugesprochen.

Traditionell ist die nächtliche Mülheimer Jury-Debatte öffentlich. Außerdem verfolgten fast 5500 Theaterfans die Diskussion per Livestream im Internet. Die Dramatikerpreise werden Mitte oder Ende Juni verliehen. (dpa)