Mülheim. . Nach Franz Xaver Kroetz widmeten sich die österreichische Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek und die Nachwuchsautorin Katja Brunner der sexuellen Gewalt gegen Kinder. Brunners Stück erschüttert dabei - während Jelinek diesmal keinen echten Widerhall in den menschlichen Seelenabgründen erzeugt.

Der Raum ist eng und warm und stickig, mit jeder Minute scheinen die Wände näher zu kommen. Bis man beinahe vergessen hat, dass es dort oben, irgendwo, einen Himmel voller Sonnenlicht und unverbrauchte Luft gibt. Hier unten in den Eingeweiden der Mülheimer Stadthalle sind wir Elfriede Jelinek hilflos ausgeliefert, vielmehr ihren düsteren Visionen. In einem Verlies, wie geschaffen für die grausamsten Mädchenquäler Österreichs, Josef Fritzl und Wolfgang Prikopil.

„FaustIn and Out“ heißt der beinahe schon obligatorische Beitrag der österreichischen Literatur-Nobelpreisträgerin zu den Mülheimer Theatertagen (vier Mal gewann sie bereits den „Stücke“-Preis!). Ihr gut einstündiges Werk will Jelinek als „Sekundärdrama“ verstanden wissen, das nur parallel zum Goethe’schen Original-„Faust“ gezeigt werden darf. Am Schauspielhaus Zürich hat Regisseur (und Bühnenbildner) Dusan David Parízek sich brav daran gehalten: Oben im Theatersaal toben Edgar Selge und Frank Seppeler als Doppel-Faust in einem Kubus herum. Unten im Keller flimmert der Video-Mitschnitt über vier Fernseher an den Wänden, darunter sitzen im Karree die Zuschauer – die erst am Ende in den großen Saal geführt werden.

Als FaustIn, GeistIn und GretIn greifen Franziska Walser, Miriam Maertens und Sarah Hostettler im Keller die gewalttätigen Fäden auf, die Goethes Werk nach Jelineks Beitrag im Innersten zusammenhält – die Verführung und Verstoßung einer Jungfrau etwa. „Immer dieses Weh und Ach“, so beginnt der Assoziationsreigen, in dem es um Türen aus Beton, Eimer für die Notdurft, totgeborene Babys und „den Papa“ geht. „Der Papa“, der gar nicht der Beste ist, aber der Erste und Einzige. Gewohnt sprachspielerisch leicht knüpft Jelinek an Faust an – „Mein schönes Fräulein, darf ich’s wagen, Ihnen einen VW-Lieferwagen anzutragen?“ Und doch, so bedrückend der Spielort wirkt und bei aller Brillanz der drei Schauspielerinnen, rauscht der typische Jelinek-Wortwasserfall diesmal eher belanglos herab, ohne echten Widerhall in menschlichen Seelenabgründen.

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Ganz anders das Werk „Von den Beinen zu kurz“ der jungen Autorin Katja Brunner (geboren 1991 in Zürich), das bereits am Freitagabend in der Mülheimer Stadthalle zu sehen war. Brunner erzählt vielstimmig von einem familiären Drama, vom Missbrauch eines Mädchens durch den Vater, vom Wegschauen der Mutter, von der mütterlichen Eifersucht gar. Vor allem aber von einer kaum verständlichen kindlichen Liebe, die sich bis in den Tod und über ihn hinaus vor „dem Aussen“ behaupten will: „Es gibt Kinder, die wünschen sich Zungenküsse von ihren Eltern.“

Blick in die kaputte Kinderseele

Lisa Arnold spielt, mit blauer Wollperücke oder auch einer großen Pappmaché-Maske, das Kind, das „vom Aufgehobensein im Mutterbauch in das Aufgehobensein einer Partnerschaft“ rutschte. In Dialogen, die an ein Kinderspiel erinnern, rekonstruieren Katja Gaudard, Dominik Maringer und Oscar Olivo ein grausiges Geschehen, das man so gerne ungeschehen machen würde. Regisseurin (und Kostümbildnerin) Heike Götze folgt der Autorin auf dem schmalen Pfad der Einfühlung in eine kaputte Kinderseele, die in ein unsichtbares und umso wirksameres Verlies gesperrt wurde. Ein Abend, der nachhallt.