Mülheim. Mit ihrem sezierenden Blick auf gesellschaftliche Tendenzen, auf unliebsame Wahrheiten und trostlose Aussichten, scheuen zeitgenössische Autoren nicht davor zurück, ihren bitteren Befunden öffentlich eine Bühne zu geben.

Über alle Kirchtürme dieser Welt hinweg geschieht sexueller Missbrauch, der sich nicht selten im viel beschworenen behüteten Kreise der Familie abspielt. Seit jeher ist die Familie Keimzelle für Tragödien und Komödien. Mit ihrem sezierenden Blick auf gesellschaftliche Tendenzen, auf unliebsame Wahrheiten und trostlose Aussichten, scheuen zeitgenössische Autoren nicht davor zurück, ihren bitteren Befunden öffentlich eine Bühne zu geben. So ist das Thema „sexueller Missbrauch“ ein Schwerpunkt bei den 38. Mülheimer Theatertagen vom 11. bis zum 29. Mai.

Elfriede Jelinek legt in „FaustIn and out“ mit der Verbindung eines aktuellen und eines Jahrhunderte zurückliegenden Missbrauchs den Finger in die Wunde. Jelinek, viermal Preisträgerin, ist zum 16. Mal dabei. Mit fünf Autorinnen von acht, darunter die drei jungen Mülheim-Debütantinnen Katja Brunner (Von den Beinen zu kurz), Azar Mortazavi (Ich wünsch mir eins) und Marianna Salzmann (Muttersprache Mameloschn) bekommt das Festival in diesem Jahr ein frischeres und weiblicheres Gesicht.

Nach langer Auszeit ist Franz Xaver Kroetz, erster Stücke-Preisträger von 1976, vertreten. In „Du hast gewackelt. Requiem für ein liebes Kind“ geißelt der Meister des sozialkritischen Stücks den Missbrauch eines Jungen in einer Saarbrücker Kneipe. Moritz Rinke, dessen Werke an den Bühnen landauf, landab gespielt werden, spült die Irrungen und Wirrungen der Partnerschaft ironisch an die Oberfläche und serviert mit „Wir lieben und wissen nichts“ eine Beziehungskomödie. Angesagte Newcomer wie Nis-Momme Stockmann (Tod und Wiederauferstehung der Welt meiner Eltern in mir) und Felicia Zeller (X-Freunde) sind ebenfalls für den mit 15.000 € dotierten Mülheimer Dramatikerpreis nominiert.

Stücke für junges Publikum

Neben dem großen Festival haben sich die Kinder-Stücke einen Ruf erspielt: Zum vierten Mal werden vom 13. bis 17. Mai fünf neue Stücke für junges Publikum vorgestellt. Wenn auch kein Trend festzumachen ist, drehen sich einige davon um die Schattenseiten von Mobilität und Individualität. Eingeladen sind Peter Licht (Wunder des Alltags), Thilo Reffert (Nina und Paul), Martin Baltscheit (Die Geschichte vom Löwen . . .), Heike Falkenberg (Nach Toronto! Oder meine Mutter heiratet deinen Vater) und Heino N. Schade (Jo im roten Kleid). Rund 30 Aufführungen kommen in zweieinhalb Wochen in Mülheim auf die Bühne. Im Rahmenprogramm sind das Gastspiel aus Chile „La Cosa“ (Das Ding von Philipp Löhle) in der spanischen Übersetzung sowie zwei Preisträger vom Heidelberger Stückemarkt zu sehen. Und Übersetzer aus zehn Ländern sind zu Gast.