Mülheim. .
Die Zahl der computerspiel- und internetsüchtigen Jugendlichen steigt. Dr. Andreas Richterich behandelt sie als Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychosomatik und -psychotherapie am Bochumer Helios St. Josefs-Hospital. Am Donnerstag, 18. April, 19 Uhr, referiert er in der Ev. Familienbildungsstätte über die „Faszination virtueller Welten“. WAZ-Mitarbeiterin Julia Blättgen sprach mit ihm.
Können Sie benennen, was die Faszination virtueller Welten ausmacht?
Dr. Andreas Richterich: Viel Zeit mit dem Computer zu verbringen, kann eine rationale Entscheidung der Kinder sein. Es ist nicht das böse Spiel oder das böse Internet, das mit dem Kind etwas macht. Sondern das Kind hat etwas davon zu spielen oder zu chatten. Die Rückmeldungen, die man am Computer erhält, sind unmittelbar und nicht verschlüsselt. Da sind Erfolge messbar. Wenn man sich mit Freunden trifft, gibt es keine Anzeige, die sagt: Zu 80 % habe ich etwas geschafft.
Sind diese Kinder also mit sozialen Beziehungen überfordert?
Richterich: Ich spreche lieber von Anforderungen, die das Leben stellt. Wenn ein Kind acht Jahre alt ist und sehr viele Stunden in der Woche am Computer verbringt, ist das Zeit, die es nicht in realen Situationen verbringt. Kinder, die völlig normal, aber vielleicht ein bisschen schüchtern und ängstlich sind, merken, dass es weniger peinlich ist, über den PC zu kommunizieren. Wenn das Kind 16 ist, fehlt diese Zeit, die ihn auf soziale Situationen vorbereitet hätte. Dann besteht die Gefahr, dass 50, 60 oder 70 Stunden pro Woche vor dem Computer zusammenkommen.
Sind tatsächlich schon Achtjährige suchtgefährdet?
Richterich: Die Tendenz geht dahin, dass das Einstiegsalter sinkt. Die fangen mit acht an, und es wird immer mehr, bis es den normalen Alltag verdrängt.
Aber es scheint so, als würden sich die Jugendlichen nicht abkapseln, sondern ihre sozialen Kontakte einfach in die virtuelle Welt verlegen...
Richterich: Die Vorstellung, dass Freundschaft nur dann gepflegt wird, wenn man sich in einem Raum befindet, haben nur wir „digitalen Einwanderer“, die ältere Generation. Die „digitalen Eingeborenen“, die Jüngeren, definieren Freund ganz anders. Es gibt Kinder, die sagen, sie hätten 700 Freunde auf Facebook. Für Jugendliche ist die virtuelle Welt eine Möglichkeit, sich von den Eltern abzugrenzen. Mit Rockmusik hören oder lila Haaren geht das bei modernen Eltern nicht mehr. Aber beim Computer haben viele Kinder einen Wissensvorsprung.
Wie äußert sich eine solche Sucht?
Richterich: Nicht alle Kinder, die viel spielen, sind süchtig. Wir unterscheiden zwischen „disfunktionalem Gebrauch“, diese Kinder haben erste Probleme, „pathologischem Gebrauch“, diesen Kindern geht es schlecht, sie spüren das, machen aber weiter, und Computerspiel- bzw. Internetsucht. Nur im letzten Fall sind alle Suchtkriterien erfüllt. Dazu gehören z.B. Kontrollverlust und Entzugserscheinungen.
Was macht süchtig?
Richterich: Der Grund ist das „Flow-Gefühl“. Dies bezeichnet das Erleben, ganz in einer Sache aufzugehen. Im normalen Leben ist es nicht einfach zu erreichen, beim Computerspiel gibt es das auf Knopfdruck. Damit kommen wir in die Nähe der stoffgebundenen Süchte, weil körpereigene Belohnungssysteme angesprochen werden. Einige Jugendliche finden es normal, 60 Stunden in der Woche unterhalten zu werden, das entspricht nicht der Realität.
Geht es denn ohne Internet?
Richterich: Jugendliche müssen Medienkompetenz lernen, ganz ohne Computer und Internet geht es nicht. Ein absolutes Nein ist nicht sinnvoll. Es gibt ja viele Kinder und Jugendliche, die ein vernünftiges Maß finden. Eltern und Schule sollten sie dabei unterstützen.