Eppinghofen. .

Das letzte Mal, dass ich Maria Jantke im Seniorenheim von St. Engelbert getroffen habe, ist über ein Jahr her. Nun ist sie, die vermeintlich älteste Deutsche, schon 110 Jahre alt. Jahrgang 1902, Deutschland ein Kaiserreich – „wie die Jahre vergehen“, sagt Maria Jantke als erstes, als ich mich nah an ihr Ohr beuge und ihr mit kräftiger Stimme sage, dass ich, der Redakteur von der WAZ, nun da bin. Dass ich sie ja schon mal im November 2011 besucht habe und sie mir da das Volkslied „Der Kaiser ist ein lieber Mann“ vorgesungen hat. Maria Jantke streckt ihren Oberkörper. „Jetzt erinnere ich mich . . .“

Die 110-Jährige ist nahezu blind und kann so schlecht hören, dass ihre Aufmerksamkeit nur bekommt, wer sich lautstark zu verstehen gibt. Aber sie ist geistig auf der Höhe, mag den Plausch, viel mehr ist ihr im höchsten Alter leider nicht geblieben. Nach einem Sturz mit 105 Jahren in der eigenen Wohnung an der Kreuzstraße und einem Oberschenkelhalsbruch sitzt sie im Rollstuhl. Den bewegt sie wohl noch eigenständig aus ihrem Zimmer auf den Flur hinaus, mehr Mobilität aber ist ihr nicht vergönnt.

Kein Jammern trotz Einsamkeit

„Was gibt es Neues? Ist Angela Merkel noch Bundeskanzlerin?“, fragt Maria Jantke ihren Sohn Rudi schon mal. Er und seine Frau besuchen sie regelmäßig – und im Wechsel mit seinen zwei Schwestern ruft er täglich einmal an. Immer zur selben Zeit, nachmittags zwischen halb fünf und halb sechs. „Ich bin froh und glücklich, dass ich meinen Sohn und meine Schwiegertochter habe, das ist meine größte Freude“, sagt die 110-Jährige, die aus Stadtfelde bei Marienburg in Westpreußen stammt, mit Unterbrechung aber seit den 30er-Jahren in Mülheim wohnt.

Kaum hören, noch schlechter sehen – Einsamkeit ist Maria Jantke eine Begleiterin. Sie kennt das Alleinsein, ihr Mann ist früh, vor mehr als einem halben Jahrhundert, verstorben. Das Alleinsein schmerzt sie, „aber jammern tue ich nicht“, sagt sie. „Das bringt nichts.“ Tochter Traute wohnt in Emden, Tochter Hildegard hat ihren Alterswohnsitz selbst schon in den Sommerhof verlegt und ist nicht mehr so mobil, dass sie die Mutter häufig besuchen kann. Maria Jantke wäre gerne mehr unter Menschen. Die Zeit, als sie ihre Kinder noch stets um sich hatte, sagt sie, sei die schönste ihres Lebens gewesen. Reisen an die Ostsee, in die Berge, die vielen Spaziergänge an der Ruhr, im Rosengarten. Alles Erinnerungen, die bleiben. Könnte sie heute noch, wie sie wollte... „Ich würde viel unternehmen, einmal im Jahr in den Urlaub fahren, unter Leute gehen. Denn das erheitert im Leben.“

110 und keine Medikamente

Vor Weihnachten kam die 110-Jährige doch mal wieder vor die Tür. Mit Caritas, Sohn und Schwiegertochter ging’s auf einen Kakao mit Schuss zum Weihnachtsmarkt auf die Schloßstraße – „wunderbar: die brennenden Lichterketten, das schöne Wetter, das war mal wieder was anderes.“ Maria Jantke wirkt zufrieden – und hat einen Ratschlag für mich, den weit jüngeren Besucher, parat: „Solange Sie gesund sind und Sie es sich erlauben können, sollten Sie noch alles unternehmen, woran Sie Lust und Liebe haben.“ Das muss man sich durch den Kopf gehen lassen...

So alt, doch so gesund: Medikamente muss Maria Jantke nicht nehmen, allein ein paar Salben für ihre Haut liegen in ihrem Zimmer parat. „Mit Grippe war ich mal bei Dr. Rosorius“, sagt sie. Lange her. „Ich lebe gesund. Habe nie übermäßig gegessen“, sagt die 110-Jährige. Wenn Heimarzt Dr. Ramme zu ihr kommt, ist das nur eine Stippvisite. Maria Jantke hebt ihre Beine, schüttelt ihre Arme über ihrem Kopf. „Gymnastik mache ich selber.“ Ist sie gerne so alt? Kein Zaudern. „Oh, ja!“

Im Oktober könnte sie 111 Jahre alt werden. Schnapszahl. Sie will dann einen Eierlikör trinken. Oder einen Wein. „So Gott will.“