Mülheim. .

Ein Zimmer im Engelbertus-Stift, Wohngruppe „Schloß Broich“, um den Tisch am Fenster sitzen vier Frauen im Rentenalter. Eine von ihnen wird in diesen Tagen schon 100, aber danach sieht sie überhaupt nicht aus: Elisabeth Fussenecker hört und sieht auch noch recht gut. Man erkennt die Hundertjährige daran, dass sie den ganzen Tag summt.

Wie gerne ihre Mutter singt, „vor allem Heimat- und Fahrtenlieder“, betont Irmgard Kalthoff (72), eine der beiden Töchter, die für die alte Dame das Gespräch weitgehend übernehmen. Denn Interviews zum eigenen langen Lebenslauf übersteigen deren Erinnerungskräfte denn doch.

Rommé spielt sie noch „raffiniert“

Noch eine Lieblingsbeschäftigung aus jüngeren Jahren pflegt sie bis heute, ins wahrlich hohe Alter: Kartenspielen. Canasta oder Rommé. Und wie die Tochter anerkennend sagt, spielt sie immer noch „gut, raffiniert“. Dank dieses Hobbys – und zur Erleichterung der Familie – sei Elisabeth Fussenecker auch schnell im Engelbertus-Stift heimisch geworden. „Sie hat sofort ein Opfer gefunden, das Karten spielt.“

Bis vor ungefähr acht Jahren, wohnte sie noch alleine in einem Hochhaus an der Aktienstraße, im Alltag allerdings unterstützt durch die Töchter. Nun teilt sie ihr Zimmer mit einer 89-Jährigen, mit der sie sich augenscheinlich gut versteht. Elisabeth Fussenecker, geborene Freitag, ist hier übrigens bei weitem nicht die Etagenälteste. Eine Wohngruppe weiter lebt eine Frau, die wird, so Gott will, im Oktober 110.

Am 16. September 1912 wurde Elisabeth in Essen geboren, schon als Kleinkind kam sie mit ihrer Familie nach Mülheim, genauer: an den Goetheplatz in Eppinghofen, und hat die Stadt seither nur noch selten verlassen. Als ihre Eltern Mitte der sechziger Jahre die erste gemeinsame Reise unternahmen, acht Tage Westerwald, „da waren wir beide schon verheiratet“, erinnert sich Annemarie Woop (67), die jüngere Tochter. Es sollte auch lange der einzige Urlaub bleiben. Erst als Witwe sei Elisabeth Fussenecker, die in einer Altentagesstätte lange ehrenamtlich mitarbeitete, gelegentlich mit Gemeindegruppen nach Österreich gefahren.

Nur einmal krank

Besondere Höhen und Tiefen in diesem langen Leben? „Bei uns lief irgendwie immer alles glatt“, meint Annemarie Woop und schaut zu ihrer Schwester hinüber. Die Mutter sei auch erst einmal, vor Jahren, ernsthaft krank gewesen. „Da haben wir sie mit Astronautennahrung aufgepäppelt.“ Doch es gab noch eine andere, langwierige und schwierige Prüfung, als die Familie Fussenecker ganz jung war, gerade erst entstand.

1938 haben Elisabeth und ihr Mann geheiratet, die Mädchen kamen 1939 und 1945, in Kriegszeiten, zur Welt. Die erste Tochter wurde in Mülheim geboren, die zweite in Bernburg an der Saale, dorthin hatte man sie alle evakuiert. Und den Vater haben die kleinen Kinder ewig nicht gesehen.„Er war bis 1951 in Gefangenschaft“, berichtet Annemarie Woop, „er kam als letzter Mülheimer aus Frankreich zurück. Man hatte ihn schon für tot erklärt, wir wussten überhaupt nicht, dass er noch lebt.“

Vater kehrte als Fremder zurück

Elisabeth Fussenecker sorgte lange selbstständig für sich und ihre Töchter, nähte viel, arbeitete als Aushilfe in einem großen Essener Modehaus. Irgendwann waren sie doch wieder zu viert. Ein zunächst fremder Mann kehrte in seine Familie zurück, „total verändert war er“, erinnert sich Irmgard Kalthoff an eine für alle sehr belastende Situation.

„Hinterher ist alles wieder gut gewesen. Es hat aber gedauert...“

Der Vater starb 1976. Und manchmal fragt sich Elisabeth Fussenecker, die am Sonntag unter anderem mit drei Enkeln und drei Urenkelkindern ihren 100. Geburtstag feiert, wie es sein wird, wenn sie sich eines Tages im Himmel wiedersehen: „Der erkennt die alte Frau doch gar nicht mehr.“ Doch, möchte man sie beruhigen. Spätestens dann, wenn sie vor sich hinsummt.