Mülheim. .
Im Vereinssport bleiben nicht nur behinderte Kinder oft außen vor. Auch anderen passiert es, dass sie dauerhaft auf der Bank sitzen, vielleicht die Trainingsgruppe verlassen müssen, weil sie „zu schlecht“ sind. Damit umzugehen, ist für Familien keine leichte Übung.
„Um bei einem Verein durchzufallen, muss ein Kind nicht im medizinischen Sinne behindert sein“, erfuhr beispielsweise Stefanie Phillip aus Speldorf, die zwei fußballbegeisterte Söhne hat. „Es reicht schon ein Mangel an Talent.“ Ihre Jungs sind acht bzw. sechs Jahre alt und hätten bei einem Mülheimer Fußballclub zu Beginn ihrer Kicker-Karriere ungute Erfahrungen gemacht: Der Ältere habe seinen Trainer gebeten, dass auch der Kleine in der Bambini-Mannschaft mittrainieren dürfe, und bekam zu hören: „Du spielst doch schon schlecht! Was soll dann dein kleiner Bruder hier?“ Stefanie Phillip erinnert sich: „Da hatte ich dann zwei heulende Kinder im Auto.“
Ein Vereinswechsel folgte 2010, im jetzigen Club „geben sie sich schon viel Mühe“, der Große spielte in der (nach Leistung gestaffelten) vierten F-Jugend mit. Doch dann gab es ein Auswahltraining: In die E4 schaffte er es nicht, ob sich ein Trainer für die E5 findet? Noch unklar. Die Mutter sagt: „Mir geht es nicht darum, ob er in der E1 oder E5 spielt, sondern nur darum, ob er überhaupt noch Fußball spielen kann.“
Eine andere Sportart käme nicht in Frage: „Er liebt es. Sobald er einen Ball hat, ist er glücklich. Und ich bin froh, dass er dabei freiwillig gerne draußen ist.“ Stefanie Phillip meint: „Man könnte doch ein großes Becken bilden, wo einfach Kinder trainieren, die Spaß am Spiel haben.“
Leistungsdruck in Sportvereinen
Die Mülheimerin Gabi Flecken ist Sportwissenschaftlerin an der Uni Duisburg-Essen und Mutter von zwei Mädchen im Teenageralter. In ihrer Familie hat man den Leistungsdruck in Sportvereinen unterschiedlich erlebt. Die Töchter begannen, wie viele, im Turnverein, wo sie in der Kleinkindergruppe starteten, aber auch später „beide unabhängig von ihrem Leistungsstand gefördert wurden“.
Allerdings: Die Große turnt besser, nimmt bis heute an Wettkämpfen teil, die Kleine wechselte mit elf Jahren zum Hockey. Erfahrung der Mutter: „Hier wird wirklich nach Leistung aussortiert und es schwächeren Kindern schwer gemacht.“ Sie fragt sich auch: „Wie soll ein Kind Erfahrung sammeln, Technik und Taktik lernen, wenn es in den Spielen nie eingesetzt wird?“
Einige „grundlegende Probleme“ sieht auch der Sportwissenschaftler und -pädagoge Prof. Dr. Werner Schmidt, Mitverfasser der Deutschen Kinder- und Jugendsportberichte. Ihm liegt seit langem auch die Gesundheitsförderung durch Bewegung sehr am Herzen. Er sieht mit Sorge, „dass Kinder heutzutage viel zu früh mit dem Sport anfangen, wenn ihnen oft noch die koordinativen und motorischen Fähigkeiten fehlen.“
Große Austrittswelle bei Zehn- bis Zwölfjährigen
Das werde von Vereinen teils zu wenig berücksichtigt. „Gleichzeitig“, so Schmidt, „ gibt es schon bei den Kleinsten Meisterschaften.“Wettkämpfe. Das gelte nicht nur im Fußball, sondern auch im Schwimmen, Turnen, Kampfsport oder in der Leichtathletik. „Wenn die Leistungsorientierung zu früh beginnt, werden die weniger Sportlichen aussortiert.“ Prof. Schmidt kann dies wissenschaftlich belegen, verzeichnet eine „große Austrittswelle“ bei Zehn- bis Zwölfjährigen, „und die setzt immer früher ein“. 50 bis 80 Prozent der älteren Kinder melden sich von den Clubs ab.
„Vor allem pubertierende Jugendliche gehen dem Sport verloren“, meint auch Gabi Flecken. Ihre Mädels nicht: Die jüngere Tochter kehrte, nach der Ernüchterung im Hockey, in die Arme ihres früheren Turnvereins zurück: „Sie spielt dort Volleyball, in einer Breitensportgruppe.“ Eine Möglichkeit, den passenden Platz zu finden.
Eine weitere bewegt Prof. Schmidt und einige Mitstreiter schon länger, er nennt es den „zweiten Weg“: „Eine allgemeine spielerische Ausbildung“, ein Angebot, das mehrere Sportarten umfasst, bei dem man sich nicht spezialisieren muss. „Es wäre sinnvoller“, meint der Wissenschaftler, „wenn sich die Sportvereine hierfür zusammensetzen und nicht als Konkurrenz verstehen würden.“