Mülheim.
Gesehen hatte Anna die überwucherten Betonreste im Uhlenhorst vorher schon. Aber richtig wahrgenommen hatte sie sie nicht. „Wenn ich mit dem Hund rausgehe, komme ich da vorbei“, sagt die Zehntklässlerin, die „in ein paar Tagen“ ihren 16. Geburtstag feiert. Seit Anna weiß, dass es Entladerampen für Raketen sind, die die Nazis errichteten, fallen sie ihr bei jedem Spaziergang auf. Es ist nur eine von vielen historischen Hinterlassenschaften des Dritten Reichs in Mülheim: Aufgespürt wurden sie von der 10d der Realschule Broich und Dr. Jörg Schmitz von der Camera Obscura und auf Fotos dokumentiert.
In den Geschichtsunterricht wurde das vom Team der Camera Obscura initiierte „Denkmalprojekt“ integriert. Doch bevor die Jugendlichen den „Spuren des Nationalsozialismus in Mülheim“ folgten, setzten sie sich mit dem Denkmalbegriff auseinander. Welche verschiedenen Arten gibt es, welchen Zweck haben sie? Auf die Theorie folgte schnell die Praxis. Drei Tage zogen die Realschüler durch die Stadt, steuerten, wie Projektleiter Jörg Schmitz sagt, „kleine, aber aussagekräftige Punkte“ an, hatten zugleich die Chance, in sonst Verschlossenes zu schauen. Alles hielten sie auf Fotos fest.
Ein beklemmendes Erlebnis
In den Broich-Speldorfer Wald ging die Gruppe da etwa, erkannte in scheinbar natürlichen, laubbedeckten Gräben plötzlich Stellungen und Bombentrichter. Die ehemalige Funkleitzentrale nahe der Wolfsburg besuchten sie unter anderem, den Ehrenfriedhof, ließen sich von Polizeihauptkommissar Stephan Boscheinen in den alten Zellen des Polizeipräsidiums einschließen und besichtigten auf dem Gelände der Friedrich-Wilhelms-Hütte den Spitzbunker. Ein beklemmendes Erlebnis, das die Jugendlichen sehr bewegte.
Doch nicht nur die 26 Broicher Realschüler sehen ihre Stadt nun mit anderen Augen, auch den Erwachsenen erscheint Bekanntes in neuem Licht. „In den 80er sind wir im Winkhaus tanzen gewesen“, sagt Geschichtslehrerin Brigitte Reiner mit Blick auf das Gebäude, das ein Umerziehungslager der Nazis war.
Geschichte im Klassenraum bleibt abstrakt
„Ich fand es interessant, dass es noch so viele Ecken gibt, wo man heute noch Spuren der Nazis und des Krieges finden kann“, meint Selina. Dass es in Mülheim so etwas gibt, hätte die 16-Jährige nicht gedacht. Für Jörg Schmitz war es ein wichtiges Ziel des Projekts, den Schülern bewusst zu machen, „wie viel Geschichte hier passiert ist und welche Auswirkungen sie in Mülheim bis heute hat“.
Damit auch folgende Jahrgänge von dem Projekt profitieren, machten die Schüler nicht nur Fotos, die nun in einer Ausstellung zu sehen sind, sie erarbeiteten zudem eine Doku-Mappe. Das so entstandene Material will Lehrerin Brigitte Reiners künftig im Unterricht nutzen und kann sich auch gut vorstellen, wieder mit Schülern raus zu gehen. Denn „Geschichte, die man nur im Klassenraum hört“, bliebe abstrakt. Bei den Rundgängen wurde sie an vielen Orten ganz konkret.
Foto-Ausstellungen
Die bei den Rundgängen und Besichtigungen entstandenen Fotos sind nun in der Realschule Broich, Holzstraße 80, ausgestellt.
Im Rahmen der Europa-Woche vom 21. bis 24. Mai, jeweils von 8 bis 15 Uhr, können sich alle Interessierten die entstandenen Werke ansehen.