Mülheim.
Die aktuelle Modernisierung des historischen Rathauses weckt Erinnerungen an Zeiten, als der Rathausmarkt noch ein echter Markt war. Die Debatte um eine Wiederbelegung steht bevor.
Ein Tag im Dezember 1957: Hunderte Male bin ich diesen kurzen Weg von zu Hause zum Rathausmarkt gegangen. Vorbei am Büdchen unter dem Bahnbogen, neben der dunklen, engen Straßenunterführung an der Friedrich-Ebert-Straße, Ecke Bahnstraße, öffnete sich der Blick über die gesamte Breite des Platzes, hin bis zu den Blumenständen an den Treppen vor dem Arkadengang, die in das imposante Gebäude führen. Ein Platz voller Leben, der jedoch an diesem späten Dezemberabend einen gespenstischen Anblick bietet. Dunkel, kalt, menschenleer liegt er vor mir; er wirkt verlassen, obwohl alle Marktstände aufgebaut sind, auch der letzte Standplatz ist vergeben.
Seit April 1957 besuche ich die Handelsschule, seitdem muss ich die Hälfte des monatlichen Schulgeldes selbst verdienen. Jeden Nachmittag helfe ich auf dem Markt beim Abbau. Die schweren Eisengestelle der Stände müssen rüber auf das Trümmergrundstück Bahnstraße, Ecke Löhberg, geschleppt werden; die Holzbretter für die Warenauslage und die eingerollten Dachplanen werden auf eine Karre geladen und auch auf den Platz gegenüber gefahren.
Nachtwache vorm Fest
Diese Arbeit bleibt mir, meinen zwei Schulfreunden und unserer Chefin Hedwig, einer resoluten, drahtigen Kriegerwitwe, heute erspart. Bis eben ging es noch lebhaft auf dem Rathausmarkt zu: Es ist Weihnachtsmarkt. Die Stände bleiben für den Weihnachtsmarkt stehen und müssen in den nächsten Nächten bewacht werden. Ich bin das erste Mal zur Nachtwache eingeteilt.
Diese Bewachung ist nicht aufregend, aber es ist bitterkalt. Immer wieder drängt es uns zu einem kleinen, runden Koksofen, der extra für uns aufgestellt wurde. Wir halten die Hände und den Körper nahe zum Ofen, aber wir können uns nicht schnell genug drehen, um gleichmäßig warm zu werden. Das Licht, das aus den Kneipen links und rechts fällt, scheint mehr Wärme als der Koksofen abzugeben.
Mülheimer Rathaus zieht um
Wir machen unsere Kontrollgänge zu zweit, sie verlaufen ereignislos. So kann ich meinen Gedanken nachhängen, die fast zehn Jahre in die Vergangenheit zurückführen. Schon am 1. Mai 1948 – es ist ein kühler, regnerischer Tag – konnte ich unter der Obhut meiner beiden älteren Brüder einer Maikundgebung auf dem gut besuchten Rathausmarkt beiwohnen. Gebannt lauschen die Männer in ihren langen Mänteln, tief in die Stirn gezogenen Hüten und hageren Gesichtern den Rednern, die mit ihren Worten große Hoffnungen auf einen demokratischen Neuanfang nur drei Jahre nach dem Krieg machen. Sie beenden diese Kundgebung mit dem gemeinsam gesungenen Lied „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“.
Aufbau der Stände
Zurück ins Jahr 1957: Der ein oder andere Marktstand hat seine eigene Geschichte. Gerade kommen wir an Metzger Tippels vorbei – schlechte Erinnerungen, denn die Eisengestelle seines Stands sind nicht nur besonders schwer, sondern auch noch fettig. Beim Rüberschleppen auf die andere Straßenseite wären sie mir fast aus den Händen geglitten. Nur einige Meter weiter, auf den Treppen zum Rathauseingang, sind die Blumenstände, wo oft noch schnell ein Strauß vor dem Gang ins Standesamt erworben wird – ein pflegeleichter Abbau ohne fetttriefende Eisengestelle, bei einem angenehmen Rosen- oder Nelkenduft.
Zum Aufbau der Stände musste ich bisher nur in den Sommerferien ran. Um halb vier Uhr morgens musste ich aufstehen, vor sieben Uhr war der Aufbau erledigt und nur wenige Minuten später war ich wieder im Bett. Jetzt freue ich mich schon auf das Ende der Nachtwache, um dann schnell ins Bett zu kommen.
In das Rathausgebäude sind wir nur selten vorgedrungen. Ein scheinbar ewig wachsamer Pförtner in Uniform am Eingang zur Marktseite, der auch immer ein Auge auf uns Jungs hatte, konnte manchmal abgelenkt werden. So kamen wir hinter seinem Rücken doch ins heilige Innere. Andächtig, wie in der Kirche, liefen wir vorsichtig auf Zehenspitzen durch das prunkvolle Treppenhaus und versteckten uns schnell hinter den monumentalen Säulen, wenn ein wichtiger Aktenträger die Freitreppe mit dem kunstvoll geschmiedeten Treppengeländer herunterkam. So strolchten wir durch das gesamte Gebäude, durch den Übergang über die Friedrich-Ebert-Straße und verließen das Rathaus durch den Ausgang im Rathausturm, vorbei an einem verdutzten Pförtner in seiner Kabine, der uns trotz aller Aufmerksamkeit nicht hatte kommen sehen.
Gruselige Erinnerung
Beim Gang zurück zum Koksöfchen geht es vorbei an einem Stand, der Erinnerungen weckt, die mein Blut scheinbar weiter gefrieren lassen: Neben seinem Marktstand hatte dieser Händler einen niedrigen Verschlag aufgebaut, schnatternd drängten sich darin Gänse. Eine feine Dame kam, zeigte in den Verschlag, der Händler griff eine Gans fest um den Hals und trug sie auf das freie Trümmergrundstück gegenüber. Aus seiner Kitteltasche zog er eine große Schere und stach diese gekonnt und routiniert längs in den Hals der Gans. Langsam und geräuschlos blutete sie aus. Wie von einer fremden Kraft gesteuert, verfolgte ich diese Schritte, wartete das Rupfen der Gans aber nicht ab. Leicht benommen, mit weichen Knien, ging ich schnell nach Hause und war ganz froh, dass wir uns keinen Gänsebraten erlauben konnten.
Ereignislos geht die Nachtwache zu Ende. Die Gaststätte „Kaiser“ verlassen inzwischen die letzten Zecher und kommen grölend an unserem Öfchen vorbei. Statt einer Martinsgans haben sie in der Kneipe vielleicht eine Frikadelle und bestimmt einige Bierchen zu sich genommen . . .