Mülheim. .
Am Tag nach der Postenrochade und nachdem der Wortnebel verzogen ist, gilt es, inne- und einige Erkenntnisse festzuhalten. Zunächst: Wer von Deal, Kungelei und Schacher redet, blendet die Gemeindeordnung aus.
Deren Väter hatten den Obrigkeitsstaat und die behördliche Allmacht als abschreckende Erfahrung vor Augen. So entstand das Zwei-Säulen-Modell aus Rat und Verwaltung und das Prinzip der Kontrolle, das durch politisch bestimmte Wahlbeamte an der Spitze seinen Ausdruck findet. Deren Auswahl funktioniert in Räten ohne absolute Mehrheiten wie im wahren Leben nur über Interessensausgleich. Das ist gewollt und das ist gut so. Viele, die gestern empört waren, hatten die Chance, mitzutun.
Denn genauso wahr und richtig ist es, dass Wähler Parteien wählen, damit sie in ihrem Sinne Macht ausüben oder, seltener, ihrem Unmut Ausdruck verleihen, dann in Protestparteien. Im Ringen um die Spitzenpositionen haben vor allem die Grünen mit einer Nähe zu dieser Gattung kokettiert. In weiten Teilen der Partei gilt es offenbar als verwerflich, Macht auszuüben. Sich halbherzig hinter eine Dezernentin mit grünem Parteibuch zu stellen und Verhandlungen mit Geschacher zu verwechseln, ist zu wenig. Den Teil ihrer Wählerschaft, der von ihnen Gestaltung erwartet, enttäuscht die Partei derzeit auf vielen Feldern. Die wütende Reaktion der Grünen im Rat ist dabei von dem Wissen gespeist, dass bis kurz vor 12 Uhr noch eine Lösung mit der SPD möglich gewesen wäre und versucht wurde. So, genauso, hat sich die SPD seinerzeit bei der Zukunftsschule gefühlt. Vielleicht kommen sich die Beteiligten ja jetzt näher. Als Leidens-Genossen.
Womit wir beim zweiten großen Verlierer des Tages wären, der FDP. Die hat nicht verstanden, dass sie in einer Ampel-Lösung wieder wahrgenommen worden wäre, nahe bei jener SPD, zu der es nicht unerhebliche Parteikreise ohnehin drängt. Als Beleg dafür hätte ein FDP-Bürgermeister mehr als gereicht; mit grünem Segen sogar, welch ein Prestigeerfolg. Aber gleich ein ganzes Dezernat? Das widerspricht schlicht der Bedeutung der Partei, die jetzt dort angekommen ist, wo sie die Wähler derzeit bundesweit sehen: hintenan. Für längere Zeit.
Die CDU dagegen dürfte sich in ihrer Gefühlslage, Sieger oder Verlierer, nicht ganz sicher sein. Mehrheitlich hat sie sich für eine Position entschieden, die da lauten könnte: im Zweifel mit der SPD. Das stärkt Wolfgang Michels, trägt aber auch der Einsicht Rechnung, dass trotz aller Lautmalerei der letzten Monate und nach der krachenden Wahlniederlage 2009 ein strategischer und personeller Gegenentwurf zur SPD nicht absehbar ist. Also, Kooperation statt Konfrontation, verhandeln statt vorführen. Nicht durchgesetzt haben sich jene, die im Bildungscoup den Anfang vom Ende mindestens der OB sahen und im Viererbündnis eine Basis. Losgelöst davon aber sind Person und Position des Bündnis-Architekten Heiko Hendriks geschwächt worden, und weil Hendriks wusste, dass er den Vermeulen-Wechsel nicht verhindern konnte, war er klug genug, nicht offen zu opponieren. So hat sein Bildungscredo mehr als nur einen Mitbeter verloren. Es lautet: Gott schütze das heilige Gymnasium. Und: keine Experimente.
Bei der SPD dagegen ist Erleichterung schier greifbar. Kämmerer Bonan gesichert, Vermeulen verunsichert und die Zuständigkeit für Bildung wieder in den eigenen Reihen: Es hätte kaum mehr herauskommen können. Problematisch ist nur, dass die langfristige politische Perspektive eher in der Programmatik der Grünen lag und liegt.
Und die Personen?
Helga Sander ist zu Recht enttäuscht, von den Grünen nur geduldet, von anderen attackiert. Und doch ist ihr Abgang ohne substanzielle Kritik abgelaufen. Sie geht, weil die Machtverhältnisse, siehe oben, eben so sind. Das ist persönlich bitter, politisch aber unumgänglich. Das weiß sie.
Peter Vermeulen lernt diese Lektion gerade erst. Der Diplom-Kaufmann ist jetzt da, wo seine Partei ihn hingestellt hat und weiß damit auch, wer Koch und wer Kellner ist. Für ihn kam das so überraschend, dass man sich fragen kann, warum er bloß den Wechsel ins Bonner Kulturdezernat kurz vor der Unterschrift ausgeschlagen hat. Die wiederholten Beteuerungen Einzelner, mit ihm, Vermeulen, habe man noch Großes vor, gewinnen vor dem Hintergrund des Ämtertauschs nicht gerade an Glaubwürdigkeit. Und für die Lesart, dass Planung und Umwelt für ihn eine Chance wären, muss man schon arg blauäugig sein. Eingezwängt in Vorschriften und Verordnungen und gepresst in einen dichten Arbeitstag ist für Kreativität wenig Platz, zumal der Mangel an Stadtgestaltung in Mülheim eher dem politischen Unwillen als behördlicher Ignoranz geschuldet ist. Vermeulen ist ebenfalls ein großer Verlierer dieses Tages.
Bleibt Ulrich Ernst. Er trägt jetzt Verantwortung für Soziales, Gesundheit, Sport, Jugend, Kultur und Schule. Manche Kombination macht Sinn, Sport und Kultur ragen unschön heraus. Gleichwohl, Ernst dürfte die Anforderungen bewältigen, weil er erstens führt statt herrscht, zweitens vernetzter ist als jeder andere in der Stadt und drittens Diskurs zulässt. Die Kulturakteure werden den Artfremden allein schon deshalb begrüßen, die Bildungsakteure erst recht. Für Ernst sind Bildung und Soziales zwei Seiten einer Medaille.
Das Fazit: Die politischen Uhren in Mülheim sind seit gestern wieder auf Null gestellt. Die Suche nach strategischen Partnern und Haltepunkten beginnt von vorne und wird beim Etat eine erste Nagelprobe finden, dann beim Bürgerbegehren und bei der Bildungsfrage.
Das Viererbündnis hat sich dem Grunde nach als verquer erwiesen. Die SPD gewinnt an Möglichkeiten und Attraktivität, für eine kommodere CDU und, so paradox es klingt, auch für nachdenklichere Grüne. Für die FDP wird es schwer, irgendwo Anschluss zu finden. Die Linke weiß sehr gut, dass sie aus dem Protest kommt und dass ihr jede Art Machtausübung eher schaden als nützen könnte. Noch. Die Zeiten werden sich ändern, allein schon, weil sich die recht Roten aktuell weise zurückgehalten haben. Das wird die MBI auch künftig nicht tun. Ein Gestaltungsanspruch läuft ihrer Zeigefinger-Attitüde zuwider. Welche Resultate aber möglich sind, wenn man die drittstärkste Kraft im Rat ernst nimmt, hat die CDU gezeigt. Bis gestern. Seit gestern fühlt sich die MBI von den neuen Freunden eher düpiert. Wozu das führt, muss sich erweisen.
Es beginnt die Zeit der Kommunikatoren.