Mülheim. . Durch einen glücklichen Zufall wurde die gestohlene Skulptur “Bogenschütze“ von Hermann Lickfeld wiedergefunden - wenn auch in einem desolaten Zustand. Dr. Hartmut Traub erinnert in seinem Gastbeitrag an die Bedeutung von Kunst im öffentlichen Raum.
Die Nachricht vom glücklichen Fund des geraubten „Bogenschützen“ und das Foto, das seine „Zurichtung“ dokumentiert, rufen in mir zwei gegensätzliche Gefühle hervor. Natürlich freue ich mich sehr, dass Lickfelds Plastik wieder da ist. Stärker aber ist die Wut und Traurigkeit darüber, wie man ihn zugerichtet hat: gesichtslos, ohne Schädeldecke, amputiert mit tiefen Einschnitten an Arm und Kopf. Hier wurde ein Stück Identität und Geschichte unserer Stadt auf eine barbarische Art und Weise verstümmelt.
Die Identität und das Gefühl der Zugehörigkeit hat in menschlichen Gemeinschaften, in Familien, Stadtteilen, Städten, Ländern und ganzen Kulturen etwas mit Bauwerken, Kunstwerken oder anderen bedeutsamen Gegenständen zu tun. Wenn ich mit dem Auto aus dem Urlaub am Kreuz Breitscheid auf die B 1 abbiege, dann weiß ich genau, was auf mich zukommt: der Kirchturm von Selbeck, die Wohnwagenparks links und rechts der Kölnerstraße, die alte Schule, das Kloster Saarn, die Mendener Brücke und, links ab, entlang der Ruhr, der Kahlenberg, die Jugendherberge, das Teehaus und dann, über die Friedrichstraße, die Petrikirche und der Turm unseres Rathauses. Hier kenne ich mich aus, trotz der Baustellen. Hier gehöre ich hin, hier bin ich Zuhause. In dieser Bäckerei werde ich morgen meine Brötchen holen, einkaufen und mich wieder in den Alltag einleben.
Zugehörigkeit zur Stadt
Für andere Mülheimer sind es andere Orte, die ihnen einfallen, und mit denen sie ihre Zugehörigkeit zu unserer Stadt verbinden. Der Weg zum Arbeitsplatz, der Leinpfad zum Joggen, die Freilichtbühne, die MüGa, Schloß Styrum oder was auch immer. Ohne diese Gebäude und Orte wären wir nicht in Mülheim, und wir wären keine Mülheimer. Was wäre Berlin ohne das Brandenburger Tor, Köln ohne den Dom, Kopenhagen ohne die Meerjungfrau, Paris ohne den Eiffelturm, Brüssel ohne sein „Männeken piss“, England ohne den Buckingham Palast?
Zu unserer lokalen oder nationalen Zugehörigkeit gehört zweifellos auch die Kunst. Deutschland ohne Goethe und Beethoven? Die Niederlande ohne Vincent van Gogh? Frankreich und Spanien ohne Picasso? Österreich ohne Mozart? Bauwerke und auch Kunstwerke begründen das Gefühl der Zugehörigkeit des Menschen zu seinem Land und zu seiner Stadt.
„Unser Beethoven“, sagen die Menschen in Bonn, „unser Mozart“ sagen die Wiener. Es ist „unser Dom“ sagen die Kölner und „unser“ Brandenburger Tor die Berliner.
Einer der wichtigsten Kulturschaffenden Mülheims
Wer solche Gemeinschaft stiftenden Kulturgüter missachtet, beschädigt oder stielt, der raubt einer Gesellschaft und den darin lebenden Menschen einen Teil ihres Selbstverständnisses, beschädigt einen Teil ihrer Identität. Das macht wütend und traurig zugleich. Ich glaube, die Florentiner würden den oder diejenigen lynchen, die ihnen „ihren David“ von Michelangelo stehlen oder beschädigen würden.
Und was im Großen gilt, gilt auch im Kleinen. Hermann Lickfeld, der leider viel zu früh verstorben ist, war einer der wichtigsten Kulturschaffenden unserer Stadt und einer der bedeutendsten – wenn nicht der bedeutendste Mülheimer Bildhauer. Einen Vergleich mit dem berühmten Duisburger Bildhauer Wilhelm Lembruck brauchen seine Arbeiten nicht zu scheuen. Deswegen erinnert die kleine Gedenktafel an der Alten Schule in Ickten völlig zu Recht an Lickfelds Wohn- und Schaffensort. Den Mülheimern Lickfelds „Bogenschützen“ aus dem Park zu stehlen, um sich an seinem bloßen Materialwert zu bereichern oder ihn privat zu verkaufen, das ist nicht nur ein krimineller Akt. Es ist ein Verbrechen an der Kulturgeschichte unserer Stadt.
Ein solches barbarisches Schicksal hat die Statue, wenn auch mit glücklicherem Ausgang, schon einmal erlebt.
Bis in die vierziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts stand Lickfelds Bogenschütze (mit Bogen) auf dem Goetheplatz im Dichterviertel. Für diesen Ort hatte Lickfeld den Auftrag der Stadt erhalten, eine Plastik zu gestalten. Im Zuge des Endsiegwahns schmolzen die Nazis alles „nutzlose“ Edelmetall für Rüstungszwecke ein. Auch Lickfelds Bogenschütze wurde demontiert und zum Ein-schmelzen abtransportiert. Nach dem Krieg fand man ihn ziemlich unversehrt, allerdings ohne Bogen, auf einem „Schrottplatz“ in Hamburg. Zur Einschmelzung war es durch das Ende des Krieges nicht mehr gekommen. Er wurde nach Mülheim zurückgebracht und unter großer Anteilnahme der Bevölkerung und der Medien im Luisental feierlich wieder aufgestellt. Dort schmückte er seitdem nunmehr fast siebzig Jahren still und in sich ruhend den Park.
Wahrzeichen gestohlen
Ein beinahe einhundert Jahre altes Kunstwerk von hohem, unwiederbringlichem künstlerischen und historischen Wert, zu allen Jahres- und Tageszeiten ein Lichtblick formvollendeter Schönheit, ein kleines Wahrzeichen unserer Stadt wurde uns Mülheimern mit der Absicht gestohlen, aus seinem bloßen Schrottwert Geld zu machen.
Nun droht auch anderen Kunstwerken im öffentlichen Raum dieses barbarische Schicksal. Die Stadt hat deswegen einige Plastiken vorsorglich in Verwahrung genommen. Das beruhigt vielleicht. Mich aber ärgert es auch. Denn damit verschwindet aus unserem alltäglichen Leben, wenn auch notgedrungen, ein Stück Ästhetik und Kunst, ein Stück Besinnung und Freude. Damit verschwinden bedeutende Teile von Mülheims städtischem, kulturellem und geschichtlichem Charakter. Es verschwindet etwas, das zu Mülheim gehört wie der Rathausturm, das Broicher Schloss, die Freilichtbühne, die Camera Obscura, Aquarius oder der Bismarckturm. Es verschwindet etwas von der Eigenheit und dem individuellen Gesicht unserer Stadt, etwas, das uns Mülheimern das Gefühlt vermittelt, Zuhause zu sein.
Niederträchtiger Kunstdiebstahl
Es geht hier also nicht nur um einen niederträchtigen Kunstdiebstahl. Es geht auch um unser Verhältnis zum öffentlichen Raum, um den es, was seine Ästhetik angeht, nicht gut bestellt ist. Es geht um unser nachlässiges und unachtsames Verhalten auf der Straße, in der Stadt, in der Fußgängerzone, an der Ruhr, in Bus und Bahn. Es geht um Bestand oder Verwahrlosung unseres sozialen Umfeldes. Es geht um Achtung oder Missachtung von Kunst und Ästhetik in unserer gemeinsamen Lebenswelt. Und das mit all seinen Folgen für unsere Lebensqualität und unser Wohlbefinden.
Was bleibt zu tun? Natürlich und begrüßenswert ist die Initiative, den gesichtslosen, einarmigen Torso des Bogenschützen wieder herzustellen, die Wunden zu schließen, die man ihm gerissen hat. Sponsoren werden sich finden, da bin ich sicher. Wiederherstellen? Wenn man schon einmal dabei ist, mit Bogen oder ohne?
Ich plädiere für eine andere Variante: Nehmt dem Schützen seine leidvolle Geschichte nicht! Kleistert seine Wunden nicht zu! Stellt ihn hin, wie man ihn zugerichtet hat! Nutzt die Kunst als Gesellschaftsspiegel, lasst die Statue ihre individuelle Geschichte erzählen. Sie ist auch ein Teil unserer städtischen Kultur- oder Unkulturgeschichte. Nehmt das Kunstwerk als echtes „denk mal!“ ernst. Macht es zum Mahnmal! – gut gesichert natürlich und mit einer Gedenktafel versehen, die die Geschichte seines Lebens- und Leidensweges erzählt.