Mülheim. . Trotz ihrer Körperbehinderung wurde eine Rollstuhlfahrerin im Sommer 2010 am Otto-Pankok-Gymnasium in Mülheim aufgenommen - doch die Schule ist nicht barrierefrei. Die nötigen Umbauarbeiten würden 300.000 Euro kosten. Das ist manchem zu viel Geld.

Der Weg, Menschen mit einer Behinderung voll ins gesellschaftliche Leben zu integrieren, ist ein weiter – und steiniger. Das zeigt der aktuelle Fall einer Sechstklässlerin am Otto-Pankok-Gymnasium. Ihr könnte nur mit Hilfe einer 300.000 Euro teuren Baumaßnahme im nächsten Schuljahr ermöglicht werden, am Chemie-Unterricht teilzuhaben. Ein nahezu tragischer Fall.

Tragisch deshalb, weil die Schülerin im Sommer 2010 vom Gymnasium in Unkenntnis ihrer Körperbehinderung (sie sitzt im Rollstuhl) aufgenommen worden ist – das „Otto Pankok“ aber gar nicht gerüstet war, ihr Zugang zu allen Fach- und Sozialräumen zu ermöglichen. Für den neuen Schulleiter, Ulrich Stockem, zur Anmeldezeit noch nicht am OP, eine äußerst unangenehme Situation: Bei der Anmeldung hatte die Schule keinen Wert darauf gelegt, die Schülerin, der wegen außerordentlicher Leistungen an ihrer Realschule der Wechsel auf ein Gymnasium angeraten worden war, selbst kennen zu lernen. Nur die Mutter des Mädchens sei bei der Anmeldung zugegen gewesen, und habe zu Protokoll gegeben, ihre Tochter „habe etwas am Fuß“. Von Rollstuhl keine Rede. Im Protokoll.

„Es kann nicht sein, dass wir das Mädchen wieder wegschicken“

Am Tag der Einschulung dann die überraschende Erkenntnis für das Gymnasium, als die neue Fünftklässlerin anrollte. „Es kann nicht sein, dass wir das Mädchen wieder wegschicken“, erinnert sich Stockem an diesen Schultag, der auch für ihn der erste an neuer Schule war. „Das hätte ich nicht übers Herz gebracht. Das Mädchen hat sich die Ferien über auf die neue Schule gefreut.“

Die Schule organisierte um, der Biologie-Unterricht fand für die sechste Klasse im Klassenraum und nicht im Naturwissenschaftstrakt statt. Denn die Fachräume dort sind für Rollstuhlfahrer nicht erreichbar. Den Rest stemmte der Klassenverband in vorbildlicher Weise. Die Sechstklässler packen seitdem an, um mit ihrer neuen Mitschülerin kleinere Hürden zu nehmen.

Die Hürde zum neuen Schuljahr allerdings werden sie nicht nehmen können. Chemie steht auf dem Lehrplan. Der Unterricht ist an den Naturwissenschaftstrakt ge­bunden. Stockem wandte sich in dieser Voraussicht an den Schulträger. Schließlich, nach einer Begehung, legte der städtische Immobilienservice eine Lösung vor. 300.000 Euro würde sie kosten, samt Aufzug für das Naturwissenschaftsgebäude sowie Rampen und Automatiktüren an sensiblen Stellen.

Bisher muss pro Schulform in einer Stadt nur eine Schule barrierefrei sein

Der Immobilienservice verwies in der von ihm vorbereiteten Beschlussvorlage für die Politik zuallererst auf die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Teilhabe soll sein, freilich feilt das NRW-Schulministerium noch an einem Gesetz, wie die sogenannte Inklusion an den Schulen vorangetrieben werden soll. Bisher besteht für den Schulträger lediglich die Pflicht, pro Schulform in einer Stadt eine Schule barrierefrei zu halten. Das gilt schon für die Gymnasien Broich und Heißen, nach deren Sanierung auch für die Luisenschule. Beim Karl-Ziegler-Gymnasium, gelegen auf treppenförmigem Areal, verzichtet die Stadt wegen des Aufwands bewusst auf den barrierefreien Umbau.

Und nun der „unplanmäßige Umbau“ am Otto-Pankok-Gymnasium? Weil die alte Schulleitung mit der Aufnahme des Mädchens unrühmlich Fakten geschaffen hat? Das geht selbst der Arbeitsgemeinschaft der in der Behindertenarbeit tätigen Vereinigungen (AGB) zu weit. Das knappe Geld sei besser an anderer Stelle aufgehoben, schrieb AGB-Vorsitzender Alfred Beyer in einem öffentlichen Brief. Etwa dafür, den barrierefreien Umbau an der Gustav-Heinemann-Gesamtschule oder an der Hauptschule in Dümpten zu vollenden. Beyer gibt sich „irritiert“, dass im Fall des OP „Extrawünsche mit einem recht hohen finanziellen Aufwand erfüllt werden sollen“, denen seinerzeit am Karl-Ziegler-Gymnasium „bewusst“ nicht entsprochen worden sei. Man bedauere die Situation des Mädchens, hätte es aber insbesondere angesichts der knappen finanziellen Ressourcen für sinnvoller erachtet, der Familie der Sechstklässlerin am ersten Schultag in aller Offenheit zu sagen, dass die Schule nicht für Rollstuhlfahrer geeignet sei.

300.000 Euro reichten nicht aus

Beyer spricht sich gegen den angedachten Umbau am OP aus, die 300 000 Euro reichten ohnehin nicht aus, die Schule komplett barrierefrei zu halten. Doch, sagt Schulleiter Stockem. Dies ließe sich organisatorisch einrichten, wenn Unterricht nur im barrierefreien Raum angesetzt werde. Nach seinen Wünschen soll die Schule ohnehin künftig Inklusion ermöglichen.

Stockem bezeichnet das Vorgehen der AGB als „unfair“, zu ihm habe Beyer nie Kontakt gesucht. Dem Schulleiter ist die Diskussion ein Graus: „Ich kann damit schlecht umgehen, wenn man das Geld an der Anzahl von Fällen festmachen will. Das riecht nach: Was ist das Kind wert?“ Sollte eine Entscheidung gegen den barrierefreien Umbau fallen, sagt er, „müssen auch die mit der Familie des Mädchens sprechen, die dafür die Verantwortung tragen. Das ist dann nicht mehr meine Sache.“

Die Ratspolitiker im Betriebsausschuss Immobilienservice verständigten sich Anfang der Woche darauf, über die Beschlussvorlage zum barrierefreien Umbau am Otto-Pankok-Gymnasium nicht zu entscheiden und das Thema zunächst zum Bildungsausschuss weiterzuleiten. Dem wurde der Auftrag erteilt, zunächst einmal ein Konzept zu erarbeiten, wo zuvorderst barrierefreie Schulen im Stadtgebiet geschaffen werden sollen. Am 6. Juni soll das Thema dann erneut beim Betriebsausschuss auf der Agenda stehen. Frank Buchwald, Leiter des Immobilienservice, sieht in der Zeitverzö­gerung kein Problem. Ohnehin hätte man es nicht mehr geschafft, sagte er im Ausschuss, einen Umbau noch in den Sommerferien anzugehen. OP-Direktor Stockem hat nach eigenem Bekunden ein gegenläufiges Versprechen im Ohr.