Mülheim. .

Der Arzt Gerhard Schweizerhof ist WIR-Ratsherr und MLPD-Kreisvorsitzender - und einer, der seit fünf Jahren gegen die Hartz-IV-Gesetze protestiert, immer montags.

Im Lesezirkel ist die „Rote Fahne“ nicht im Angebot, bei Gerhard Schweizerhof in der Praxis liegt sie im Wartezimmer. Anfang des Jahres hatte der Mediziner, WIR-Ratsherr und MLPD-Kreisvorsitzender ein für ihn zweifelhaftes Vergnügen: Fünf Jahre gab es da Hartz IV.

Schweizerhof stand wieder mit dem Häufchen Montagsdemonstranten auf der Kurt-Schumacher-Platte. Wenn’s sein muss, will der 65-Jährige noch in 20 Jahren gegen die Sozialgesetze protestieren.

Verwurzelt in der Wahlheimat

Mittagspause in seiner Praxis an der Mühlenstraße. Im Norden der Stadt. Dort hat er sich niedergelassen, der Urschwabe ist längst verwurzelt in seiner Wahlheimat, dem Ruhrgebiet. Er kam einst, weil er im Pott den Arbeitern, für dessen Belange er sich einsetzt, näher zu sein glaubte. An den Werkstoren warb er für seine Gesellschaftsideale.

Nun sitzt er da, mit vollem, fast schneeweißem Bart. Er wirkt schon weise, der Allgemeinmediziner. Seine politische Auffassung freilich, die teilen die wenigsten. Schweizerhof ist Marxist-Leninist, glaubt, dass die Gesellschaft einer Revolution bedarf, um die Rechte der vermeintlich Unterdrückten des Kapitals zur Geltung bringen zu können. Der Verfassungsschutz hatte ihn früh im Visier. Schweizerhof lächelt. Milde. Er ist ein wohltuend gelassener Zeitgenosse, mit ihm lässt sich ungezwungen plaudern. Er sieht es unter der Oberfläche gären, einen Linkstrend. Eine Revolution mit Massenstreiks und besetzten Betrieben (noch) nicht.

Bundeswehr-Zeit prägend

Die Bundeswehr-Zeit in den 1960ern, sie ist prägend für den jungen Mann aus Tübingen. Gerhard ist das älteste von acht Kindern, der Vater: Stadtrat für die CDU, gar mal Bürgermeister-Kandidat. „Le­bendig und spannend“ sei das Heranwachsen gewesen. Die Eltern: weltoffen, die Wohnungstür stets offen für Besuch. Die Erziehung: nach konservativem Werteempfinden. Der junge Gerhard wird erzogen im treuen Glauben an die junge Demokratie.

Freiwillig geht er zu den Fallschirmjägern. Dort schwindet das Vertrauen in den neuen deutschen Staat. Gelernt aus dem Faschismus? Schweizerhof erlebt militärischen Drill, Fragen nach dem Warum werden bestraft. Singritual: „Ja, wir greifen immer an, Fallschirmjäger gehen ran, sind bereit, zu wagen!“ – ein Lied aus dem Weltkrieg. Schweizerhof will nicht Teil dieser Glorifizierung sein.

Wendepunkt im Denken

Der Wendepunkt im politischen Denken des jungen Mannes. Er rückt nach links. Der Vater hat kein Verständnis. Es gibt gar eine Zeit, da spricht er nicht mehr mit seinem Sohn, spät findet er sich ab. Vielleicht auch, weil Gerhard klarmacht, dass seine Einstellung keineswegs gegen das Elternhaus gerichtet ist.

An der Uni wird der Medizin-Student aktiv in der „Basisgruppe Medizin“, die die bürgerliche Medizin kritisiert, später für kommunistische Gruppierungen. Schweizerhof gibt seinen Namen für das Impressum der marxistisch-leninistisch orientierten Publikation „Der Rebell“ her – der Verfassungsschutz wird hellhörig. Selbst von einem 20-Minuten-Referat in kleiner Studentenrunde, wo er alle kennt, wird er später eine Notiz finden, als ihm bei seiner ersten Assistenzarztstelle im Städtischen Krankenhaus Rottenburg die Akte des Verfassungsschutzes unter die Nase gehalten wird. Schweizerhof arbeitet trotzdem dort – ohne Arbeitsvertrag.

Den Menschen im Viertel verpflichtet

1977 geht Schweizerhof mit Frau Sabine, die er bei der politischen Arbeit in Tübingen kennengelernt hat, ins Ruhrgebiet. Er arbeitet im Josef-Hospital, Oberhausen, 1986 übernimmt er die Hausarzt-Praxis an der Mühlenstraße. 65 Jahre alt ist er, ans Aufhören denkt der Verfechter von Rente mit 60 trotzdem nicht, er fühlt sich den Menschen im Viertel verpflichtet. „Wenn ich aufhöre, gibt es hier keinen hausärztlichen Standort mehr“, sagt er.

Dem Mediziner Schweizerhof ist menschliche Nähe zum Patienten ein hohes Gut. Er will zuhören, Beschwerden allseitig betrachten. Der politische Mensch ist stets zugegen. „Ich behandele Menschen, weil sie überarbeitet sind, und andere, weil sie unterbeschäftigt sind. Das kann man nicht mit Pillen heilen.“

Und sonst? „Bin ich auch Opa!“, sagt der 65-Jährige, der immer noch gerne Camping-Urlaub macht, im Horbachtal joggt, mit dem Elektrofahrrad unterwegs ist, etwas wehmütig. Kinder und Enkel wohnen weit entfernt, so kann er ihnen selten nah sein.