Immer mehr Mülheimer sind trotz Job auf Hartz IV angewiesen. Über ein Drittel aller Bedarfsgemeinschaften erzielt ein Einkommen – das bei Weitem nicht ausreicht. Ein Trend, der sich, wenn auch langsam, in den letzten Monaten weiter verstärkt hat.
Da zudem die Tarife weiter sinken, arbeiten immer mehr Menschen unter der Niedriglohnschwelle.
8710 Bedarfsgemeinschaften gab es im Mai in Mülheim, erklärt Jennifer Neubauer, stellvertretende Leiterin der Sozialagentur: Familien, Paare oder auch Einzelpersonen, die auf Hartz IV angewiesen sind. Über ein Drittel der Gemeinschaften, 3343 an der Zahl, hat ein Einkommen, das die Sozialagentur aufstocken muss, damit es zum Leben reicht.
Ein Großteil der so genannten „Aufstocker“ sind Minijobber, erklärt Jennifer Neubauer. 2119 Bedürftige verdienen nach den Zahlen von Mai bis zu bis 400 Euro. Der Rest arbeitet mehr – zum Teil auch in Vollzeit. Zum Vergleich: Im Januar diesen Jahres lag die Zahl der Bedarfsgemeinschaften laut Sozialagentur noch bei 8590, davon mussten 3261 ihr Einkommen aufstocken. Insgesamt gab es in Mülheim im Januar 83 280 Haushalte, damit war etwa jeder zehnte hilfsbedürftig – wobei Haushalt nicht unbedingt gleich Bedarfsgemeinschaft ist.
Der Vergleich mit den Zahlen von Januar 2009 macht es deutlich: In immer mehr Fällen reicht das Gehalt nicht aus. Die Gesamtkosten, die anfallen, wenn Berufstätige zusätzlich unterstützt werden müssen, kann die Stadt nicht beziffern. Doch eine klare Meinung hat Matthias Spies, Leiter der Sozialagentur: „Auch wenn es in den letzten Jahren keine großen Zahlensprünge gab, ist die Entwicklung sicherlich schlimm.“ Die Mülheimer „Aufstocker“- Zahlen entsprächen etwa dem Bundesschnitt – und seien damit hoch. „Natürlich darf es eigentlich nicht sein, dass jemand in Vollzeit arbeitet und nicht davon leben kann.“ Zwar erhole sich der Arbeitsmarkt gerade wieder – am besten jedoch im Bereich der Zeitarbeit. „So kommen viele aus der Abhängigkeit von Zuschüssen nicht heraus.“
Besonders betroffen von der Arbeit unter der Niedriglohngrenze sind die „klassischen“ Bereiche – laut Spies die Einzelhandelskaufleute, Friseure, Angestellte in der Gastronomie und Sicherheitskräfte. Ein Hauptgrund sind für Günter Wolf, stellvertretender Geschäftsführer im verdi-Bezirk Mülheim/Oberhausen, entweder nicht eingehaltene Tarife oder solche, die immer weiter in den Keller gehen. „Bei Friseuren sind es zum Teil sieben Euro pro Stunde, bei Sicherheitskräften acht, in der Gastronomie gerne auch mal weniger.“ Die Mindestlohn-Forderung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) liegt zur Zeit bei 8,50 Euro, soll sich laut Wolf aber auf zehn erhöhen. Bei der Bezahlung gebe es auch direkt vor der Haustür „Wildwuchs ohne Ende“. Günter Wolf erinnert an den Fall des Textildiscounters Kik, der Stundenlöhne um die fünf Euro gezahlt habe. „Sittenwidrig ist die Bezahlung dann, wenn sie ein Drittel unter dem Tarif liegt. Bei Kik hätten die Mitarbeiter mindestens acht Euro bekommen müssen.“ Laut Yvonne Sachtje, Leiterin der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) für den Bereich Ruhr, sind nicht nur Bäckereiverkäuferinnen, die in Teilzeit arbeiten, fast schon automatisch zu gering entlohnt, sondern oft auch ausgebildete Vollzeitkräfte im Gastro- oder Hotelbereich. „Sie werden auf 400-Euro-Basis eingestellt und machen den Rest schwarz.“
Ulrich Schreyer, Geschäftsführer beim Diakoniewerk Arbeit und Kultur, erfährt von vielen Kunden der Mülheimer Tafel, dass ihr Lohn nicht zum Leben reicht. Ein einheitlicher Mindestlohn sei ein Schritt in die richtige Richtung – bei Reinigungs- oder Sicherheitskräften sei aktuell jedoch auch eine Bezahlung von unter fünf Euro keine Seltenheit. „Sittliche oder ethische Grundsätze scheinen da einfach nicht mehr zu zählen.“