Mülheim. Das E-Auto boomt in Mülheim, doch es fehlen Ladesäulen. In einer Siedlung kündigt sich nun ein radikaler Bruch an. Was Betroffene berichten.

Als die Stadt vor rund zehn Jahren die Fertigstellung des Wohnparks Witthausbusch verkündete, war damit auch ein Wohnkonzept umgesetzt, das bis heute in Mülheim so fortschrittlich wie selten ist: die Trennung von behütetem Wohnen und Verkehr. Doch diese Grenze weicht nunmehr auf. Mehr und mehr E-Wagen ziehen in die Vorgärten ein. Notgedrungen. Denn eines hatte das Fortschrittskonzept der Stadt damals nicht im Blick: die Elektrifizierung des Autoverkehrs.

Beschaulicher als in vielen anderen Mülheimer Siedlungen hat man bislang auf dem ehemaligen britischen Kasernengelände gelebt: Der grüne Witthausbusch schmiegt sich an die Reihenhäuser und Mietwohnungen. Gebündelt an nur wenigen Stellen gibt es private und öffentliche Auto-Stellplätze oder Carports. Dafür können die Westminsterstraße und ihre schmalen Nebenstraßen weitestgehend frei vom Autoverkehr bleiben, sogar von Kindern zum Spielen genutzt werden. Und wer aussteigt, um unbehelligt vom Verkehr zu den Reihenhäusern zu schlendern, hört es sofort: weniger Lärm.

E-Auto oder Vorgarten? Eine unbequeme Wahl

Das Luftbild vom Wohngebiet auf dem ehemaligen Mülheimer Kasernengelände zeigt die weitgehende Trennung, „um weitgehend autofreie und damit fußgängerfreundliche Wohnbereiche zu erhalten“.
Das Luftbild vom Wohngebiet auf dem ehemaligen Mülheimer Kasernengelände zeigt die weitgehende Trennung, „um weitgehend autofreie und damit fußgängerfreundliche Wohnbereiche zu erhalten“. © www.blossey.eu / FUNKE Foto Service | Hans Blossey

Doch nun droht der Beschaulichkeit das Ende. Eigentümer machen zunehmend ihre begrünten Vorgärten für Stellplätze platt, um mit dem E-Auto an ihre Wallbox vorfahren zu können. Eine Wahl haben sie dabei kaum, denn Strom tanken können sie im nahen Umfeld nicht, dafür fehlen in Mülheim die Ladesäulen.

Auch an der Westminsterstraße, wo Anwohner Christoph Witte genau in jenem Dilemma steckt: Soll er auf nachhaltige E-Mobilität umsteigen und damit auch den Vorgarten einer Stellfläche weichen lassen? Für Witte ein fauler Kompromiss: „Wir sind gerade hierhin gezogen, weil wir das Konzept gut finden. Hier gibt es Spielstraßen mit wenig Verkehr, jetzt müssen dort Autos durch, um zu Wallboxen zu kommen.“

„Kinder- und altenfreundlich“: Noch sind die engen Nebenstraßen im Wohnpark Witthausbusch autofrei. Wie kann der Charakter der Siedlung erhalten bleiben?
„Kinder- und altenfreundlich“: Noch sind die engen Nebenstraßen im Wohnpark Witthausbusch autofrei. Wie kann der Charakter der Siedlung erhalten bleiben? © FUNKE Foto Services | STEFAN AREND

Dabei setzen in der Siedlung immer mehr Menschen auf eigene Photovoltaikanlagen und wollen damit natürlich auch ihre Fahrzeuge betanken. Für Witte ein positives Signal, dass viele Mülheimerinnen und Mülheimer die Klimawende ernst nehmen. Absurd aus seiner Sicht nur, wenn dies nun auf Kosten von grünen Vorgärten gehen soll, die ja auch dringend gegen die problematische Verdichtung in der Stadt gebraucht werden.

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Mülheimer ärgert sich: Wo bleibt die Lösung für Quartiere?

„Offensichtlich wollen viele Bewohner in der Siedlung auf E-Mobilität umsteigen. Hier ist die Stadt gefragt. Warum schafft man kein Angebot für das Quartier?“, fragt Witte und hat dabei smarte Straßenlaternen im Blick oder Ladestationen auf zumindest manchen öffentlichen Parkplätzen.

„Die Stadt baut ja auch keine Tankstellen“, lautete jahrelang die Antwort aus dem Verkehrsdezernat, mit der man die Infrastruktur für E-Mobilität schleifen ließ. Zumindest, als es noch in der Hand des alten Dezernenten Peter Vermeulen (CDU) lag. In Folge blieb der Ausbau der Mülheimer Ladeinfrastruktur nur zweistellig, weil dieser weitestgehend an privaten Investoren hing. Und die warteten ab, ob das Ganze überhaupt wirtschaftlich würde.

Keine Mülheimer Ladeinfrastruktur, dafür kuriose Einzellösungen

Um seinen Vorgarten retten zu können, hat Markus J. aus privater Tasche ein Kabel unter öffentlichem Grundstück verlegen lassen. Die Stadt will das aber nicht zur Regel werden lassen.
Um seinen Vorgarten retten zu können, hat Markus J. aus privater Tasche ein Kabel unter öffentlichem Grundstück verlegen lassen. Die Stadt will das aber nicht zur Regel werden lassen. © FUNKE Foto Services | STEFAN AREND

Stattdessen brachte die dennoch explodierende Zulassung von E-Autos in Mülheim auch an der Westminsterstraße kuriose Einzellösungen hervor wie diese: Fast sieben Jahre lang rang Nachbar Markus J. mit der Stadt darum, eine Ladesäule mit Hausstrom an seinem privaten Parkplatz einrichten zu können. Der liegt an der Straße hinter seinem Garten. Nur zwischen Garten und Parkplatz sind auch etwa vier Meter öffentliches Grün und ein schmaler Fußweg.

Markus J. beantragte also, das Kabel fachmännisch auf eigene Kosten verlegen lassen zu dürfen. Doch die Verwaltung lehnte zunächst ab: Dies sei „generell nicht genehmigungsfähig“.

Nach monatelangem Ringen erst (Verwaltung: „Dies hat es bisher legal und geregelt noch nicht gegeben“) einigte man sich auf einen „Gestattungsvertrag“, zunächst mit Verwaltungsgebühr (bis zu 400 Euro) und jährlicher Miete (75 Euro). Der Fall beschäftigte anschließend verschiedene Ausschüsse, bis auch das geregelt war: „Die Sondernutzungssatzung der Stadt wird in § 15 - (1) Sondernutzungsgebühren werden nicht erhoben für: 7. die unterirdische Verlegung von Stromkabeln unter städtischem Grund zwecks Aufladung von Elektro- und Hybrid-PKW.“

Aus Sicht der Stadt problematisch: Private Stromkabel unter öffentlichen Grundstücken

Doch so blieb diese Lösung bis heute ein Einzelfall. Und aus Sicht der Stadt weiterhin schwierig, wenn nun jeder ein eigenes Kabel unter öffentlichem Grundstück verlegte. Denn bei Straßenbauarbeiten müssten diese wohl mit allen Anwohnern abgesprochen werden. Auch für Siedlungsbewohner Christoph Witte fällt diese Variante raus – nicht nur angesichts des zu erwartenden Ritts auf dem Amtsschimmel.

Auf mittlere Sicht, befürchtet Witte allerdings, dass damit mehr und mehr Vorgärten verschwinden werden. Denn hier handelt die Stadt offenbar genehmigungsfreundlicher, wie ein Blick durch die Siedlung zeigt. Selbst wenn das eigentlich gegen den zukunftsweisenden Siedlungscharakter der ursprünglichen Planung verstößt.

In den Abteilungen des neuen Verkehrs- und Umweltdezernenten Felix Blasch scheint das Problem fehlender Ladeinfrastruktur zumindest angekommen zu sein, seit man die Klimaneutralität 2035 in den Blick genommen hat. Denn dort ist die Elektrifizierung des Autoverkehrs eine Art Generalschlüssel, um dem Ziel näher kommen zu können. Etwa 1800 öffentliche Ladepunkte müssten dafür laut Klimaschutzkonzept bis 2035 entstehen, und damit gut 150 pro Jahr.

Mülheimer Klimaschutz verspricht: Wir arbeiten an Lösungen

„Wir haben in Mülheim viele Siedlungen, die in den 50er und 60er Jahren entstanden sind, und in einer ähnlichen Situation sind“, sagt die Leiterin der Stabsstelle Klimaschutz, Ulrike Marx. „Wir müssen deshalb Lösungen finden, die für die jeweilige Siedlung angepasst sind.“

Ein solches Konzept für eine Ladeinfrastruktur in Mülheim sei deshalb nicht nur notwendig, „wir arbeiten auch schon daran“, versichert Marx. Bis zum Herbst dieses Jahres soll es stehen und bis Ende des Jahres ein Unternehmen gefunden sein, mit dem man das Konzept auch umsetzt - „wenn es nach unseren Wünschen geht“, sagt die Leiterin.

Bis zur Lösung für das Problem müssen Witte und viele andere E-Autobesitzer in Mülheim noch einige Geduld aufbringen.

Autofreies Wohnen am Witthausbusch: So fing es an

So fing das Mülheimer Wohnprojekt auf dem Gelände der „Wrexham Barracks“ vor gut 20 Jahren an.
So fing das Mülheimer Wohnprojekt auf dem Gelände der „Wrexham Barracks“ vor gut 20 Jahren an. © Hans Blossey | Hans Blossey

Entsonnen wurde die Idee für das 16 Hektar große Gelände „Wrexham Barracks“, auf der eine Pionierkaserne stand, bereits 1991, weiß Klaus Beisiegel, Referatsleiter im Dezernat Stadtplanung, zu berichten. Er war 20 Jahre lang Projektleiter für den „Wohnpark Witthausbusch“.

1994 legt man für einen Ideenwettbewerb unter anderem fest, die „Bevorrechtigung für Fußgänger und Radfahrer im Inneren der neuen Siedlung“. Man will eine „familiengerechte und damit kinder- und altenfreundliche Siedlung schaffen“, schildert Beisiegel. Das galt als zeitgemäß.

Der Bebauungsplan von 1998 soll besiegeln, dass Tiefgaragen, Garagen, überdachte Stellplätze (Carports) und Stellplätze nur innerhalb von besonders festgesetzten Flächen zulässig sein sollen, „um weitgehend autofreie und damit fußgängerfreundliche Wohnbereiche zu erhalten“. Nur wenige Ausnahmen sind zugelassen.

Viele Wendungen und Hängepartien macht das Mülheimer Projekt durch: teilweise Insolvenzen, Neuvermarktungen, Umplanungen. Es dauert mehr als 20 Jahre bis zur völligen Fertigstellung.

Die anfänglich gewünschte strikte Minimierung des Autoverkehrs wurde aufgeweicht, weil man in Teilbereichen doch noch Stellflächen an den Häusern erlaubte. Insgesamt aber blieb das Konzept erhalten.

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