Mülheim. Erst Flugbegleiterin, dann Architektin, heute Lehrerin in Mülheim. Sigrid Geissler unterrichtet gerne, kritisiert aber die Lehrerausbildung.

Schulen sind verzweifelt auf der Suche nach qualifizierten Lehrkräften, darunter Quereinsteigern wie Sigrid Geissler (62) aus Essen. Als vielseitiges Multitalent unterrichtet sie bereits seit 17 Jahren an der Realschule Broich in den Fächern Englisch, Erdkunde, Kunst und Technik. Zusätzlich leitet sie die Erasmus AG. Ihre berufliche Laufbahn führte sie zuvor als Flugbegleiterin und Architektin durch verschiedene Lebensstationen.

Selbst beschreibt sie sich als „unkonventionelle Lehrerin“ – eine Lehrerin, die gerne „out-of-the-box“ denkt. In Anbetracht des Lehrermangels haben wir Sigrid Geissler gefragt: Welche Hürden gibt es in der Lehrerausbildung? Und wie könnte man den Beruf ansprechender gestalten?

Warum haben Sie sich dafür entschieden, als Quereinsteigerin in einer Schule tätig zu werden?

Ursprünglich bin ich Architektin und in den USA aufgewachsen, Englisch ist also meine Muttersprache. Als mein Sohn in den Kindergarten kam, wurde ich gefragt, ob ich eine Englisch-AG für die Kinder leiten könnte. Das entwickelte sich dann weiter bis in die Grundschule. Ein Bauherr, der selbst an einer Berufsschule unterrichtete, fragte mich, ob der Quereinstieg nicht auch etwas für mich wäre. Die Arbeit auf Auftragsbasis mit einem schulpflichtigen Kind ist nicht immer ideal, daher passte der Lehrerberuf ganz gut. Auf einem Online-Portal fand ich schließlich eine Ausschreibung für eine Vertretungsstelle als Englisch-Lehrerin. Nur zehn Minuten nachdem ich meine Bewerbung abgeschickt hatte, erhielt ich einen Anruf, und am nächsten Tag hatte ich schon meinen Vertrag in der Hand.

Der reale Schulalltag unterscheidet sich deutlich von dem, was in Lehrbüchern steht.
Sigrid Geissler

Sie beschreiben sich selbst als unkonventionelle Lehrerin. Was meinen Sie damit?

Traditionelle Lehrer durchlaufen üblicherweise den Weg von der Schule zur Universität und dann erneut zur Schule. Dieser Weg erlaubt nur begrenzte Einblicke in das tatsächliche Berufsleben. Natürlich leisten meine Kollegen, die diesen Weg zum Lehrerberuf gegangen sind, hervorragende Arbeit. Dennoch bin ich der Meinung, dass Quereinsteiger den Schülern mit ihrer Berufserfahrung viel bieten können. Zum Beispiel, wenn es um die Selbstständigkeit geht. Auch die Problemlösungskompetenzen, die ich in meinem Architektenbüro oder während meiner Zeit als Flugbegleiterin erworben habe, sind auch jetzt noch von großem Nutzen. Der reale Schulalltag unterscheidet sich nämlich deutlich von dem, was in Lehrbüchern steht.

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Wie verlief die Lehrerausbildung für Sie?

Die Studienseminare haben mir sehr gefallen. Dort habe ich mich auf die Fächer Kunst und Technik konzentriert. Im Fach Technik waren hauptsächlich Quereinsteiger, während in Kunst nur Studierende waren, die beinahe meine eigenen Kinder hätten sein können. Aber besonders belastend empfand ich die Unterrichtsbesuche. Das war eine wahnsinnige Menge an Vor- und Nachbereitung sowie Kolloquien, die sich oft weit von den realen Situationen im Schulalltag entfernten. Ein Kollege aus der Architekturbranche, ebenfalls Quereinsteiger, hat zu mir gesagt: „Ich bin froh, dass das vorbei ist.“ Sich auf den eigentlichen Unterricht konzentrieren zu können, ist viel besser.

Was muss sich Ihrer Meinung nach verändern?

Das Uni-System ist zu realitätsfern. Insbesondere während des Referendariats müssen Kollegen für Prüfungen umfangreich vorbereitete Situationen, Arbeitsblätter und Stationen schriftlich planen – ein Aufwand, der wenig mit den Anforderungen des tatsächlichen Berufslebens zu tun hat, aber extrem zeitaufwendig ist. Außerdem habe ich das Gefühl, dass einem eingetrichtert wird, dass Lehrer immer viel leisten müssen, was dazu führt, dass der Fokus auf die individuellen Bedürfnisse der Schüler verloren geht. Lehrer, die bereits im Beruf stehen, haben natürlich ein Gefühl dafür entwickelt, aber die zukünftige Lehrerausbildung sollte sich stärker an der Realität orientieren. Wenn Lehrpläne etwas entschlackt werden würden, könnten die Lehrer auch ihren Unterricht mitgestalten. Ich selber arbeite gerne fächerübergreifend und versuche, meine Themen auf aktuelle Ereignisse zu beziehen oder lebensnah zu gestalten. Man muss aber immer alles, was nicht direkt im Lehrbuch steht, ständig rechtfertigen.

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Wie könnte der Lehrerberuf attraktiver werden?

Schule und Bildung sollte in der Politik ernster genommen werden. Aktuell kooperieren wir mit einer Schule in Venray in den Niederlanden, wo die Klassen vollständig mit Whiteboards, Beamern und WLAN ausgestattet sind. Sogar in Essen verfügen die Schüler über Tablets. Man sieht, dass sich etwas tut, aber schleppend, und es fehlt immer irgendetwas. Es fehlt aber auch an Wertschätzung. Der Beruf hat sich im Laufe der Jahre geändert, insbesondere im Umgang mit Lehrkräften. Viel Unterrichtszeit wird für Regeln, Benehmen und für die allgemeine Erziehung aufgebraucht. Viele Schüler sind teilweise sehr respektlos, nicht nur gegenüber Lehrern, sondern auch untereinander. Auch neigen in vielen Fällen Eltern dazu, die Verantwortung für Schuld auf Lehrer abzuwälzen. Da kann ich verstehen, wenn das Interesse an dem Beruf gering ist.

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Was sind für Sie die Hauptmotivatoren in Ihrem Beruf als Lehrerin?

Wenn ich in einem Jahr drei Kinder begeistern kann, bin ich total zufrieden. Es erfüllt mich besonders, wenn ehemalige Schüler, die ich zufällig treffe, sich bei mir bedanken und mir mitteilen, dass sie durch meinen Unterricht beispielsweise die Motivation für das Englisch-Abitur gefunden haben. Oder letztens schickte mir eine ehemalige Schülerin ein Bild, wie sie am Grand Canyon steht, da wir das Thema im Erdkundeunterricht behandelt hatten. Mit ein paar Schülern habe ich schon seit Jahren Kontakt, das ist immer etwas Schönes. Sofern ist der Beruf toll, und der Arbeitsaufwand ist wesentlich weniger stressig als in der Selbstständigkeit. Aber es passiert durchaus, dass man verbal attackiert wird. Das bringt einen schon ins Zweifeln. Doch dann kommen wieder die besonderen Augenblicke, in denen Schüler sich beispielsweise für ein Austauscherlebnis bedanken. Dann denke ich, okay, hast alles richtig gemacht.

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