Mülheim. Zwei Kinder sind in dieser kleinen Wohnung geboren - heute kaum vorstellbar. Die Mülheimerin Charlotte L. lebt hier seit 1962. Wer bietet mehr?
Ihren ersten Umzug erlebte Charlotte L. im Kriegsjahr 1944, es muss schon Herbst gewesen sein - und ein Alptraum. Sie stammt aus Ostpreußen, aus dem Memelland an der Kurischen Nehrung. „1944 mussten wir raus.“ Die gerade Siebenjährige wurde mitgerissen in einem der zahllosen Flüchtlingstrecks, ihre Familie floh mit Pferd und Wagen, kam erst bei einem Bauern in Sachsen unter, zog später ins Ruhrgebiet, wo der Vater auf dem Bau Arbeit fand.
Der letzte Umzug von Charlotte L. liegt nun auch schon mehr als 61 Jahre zurück, es war gerade Frühling - und ein Glücksfall. Im März 1962 bekam sie mit Ehemann und kleinem Sohn knapp 70 Quadratmeter in Mülheim-Heißen: Auf der Wegscheid. Damals war die Wohnungssuche mühsam, „ich war so froh, dass wir sie bekommen haben - hier in den Städten war ja alles kaputt“. Die zweistöckigen Mietshäuser der Mülheimer Wohnungsbaugenossenschaft (MWB) waren damals zum Teil frisch fertiggestellt, zum Teil noch im Bau. Charlotte L. ist bis heute an dieser Adresse anzutreffen und wirkt äußerst zufrieden.
Mülheimerin lebt seit 1962 in derselben Mietwohnung
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Zwei ihrer drei Kinder sind hier geboren, und das ist wörtlich zu nehmen, denn es waren Hausgeburten. Erst kam ein Sohn in der Wohnung zur Welt, dann eine Tochter, jeweils stand eine Hebamme Charlotte L. zur Seite. Die drei Geschwister teilten sich das Kinderzimmer, die Jungs im Stockbett, das Mädchen auf der Schlafcouch.
An ihre Kindheit habe sie „sehr schöne Erinnerungen“, sagt Eveline L., die Tochter, deren alte Puppe noch auf der Sofalehne sitzt, im hellblauen, selbst gehäkelten Kleidchen. Immer hätten sie draußen gespielt, und wenn sie mal rein mussten: „Der Schlüssel steckte von außen in der Wohnungstür.“ Die Leute vertrauten einander.
Männer fuhren morgens zur Arbeit, Straße war frei zum Spielen
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Allein in ihrem Haus hätten neun Kinder gewohnt, erinnert sich Charlotte L. „Die Männer sind morgens mit dem Auto zur Arbeit gefahren, tagsüber war die Straße leer.“ Ideal zum Radfahren oder Rollschuhlaufen. Im Sommer wurde eine Zinkwanne auf dien Rasen gestellt, in der die Kinder planschen konnten. Zu Familienfesten wie Kommunion oder Konfirmation habe man die Nachbarn eingeladen.
Das Viertel war ruhig und grün, die Wege zu den Heißener Geschäften, zu Schulen, zum Kinderarzt und zur U-Bahn-Haltestelle (früher Straßenbahn) waren dennoch nah. „Wir haben wunderbar gewohnt.“ Die Nachbarschaft sei „super“, sagt die 85-Jährige. Das gelte bis heute, auch für die jüngeren Leute, die nachkamen. Aber so wie früher könne es nicht mehr sein, „weil die jungen Leute arbeiten müssen“.
Früher war Urlaub nicht drin, später bereiste sie die Welt
Ihr Ehemann, von Beruf Anstreicher, verstarb 1992. Seitdem wohnt Charlotte L. alleine, bekommt aber häufig Besuch von Verwandten oder Bekannten, die Tochter schaut täglich vorbei. Eine kleine Urenkelin gibt es mittlerweile auch, für sie steht eine Tonne mit Bauklötzen auf dem Teppich neben dem Sofa.
Viele Sommer hat Charlotte L. als junge Frau zu Hause verbracht, „Urlaub war anfangs nicht drin“. Ihre Kinder schickte sie mit Gruppen auf Reisen, organisiert von der Stadt. Sie selber brach erst in späteren Jahren auf und sah viel von der Welt: Gardasee, Mallorca, Kanada, New York, Bangkok, Bali, Hawaii. Mittlerweile, nach schwerer Krankheit, benötigt die 85-Jährige einen Rollator. Ihr Hausarzt rät dringend zu Bewegung, zum Gehen, damit sie mobil bleibt, und Charlotte L. beherzigt seinen Rat. Sie ist froh, dass es das Nachbarschaftshaus der MWB in Heißen gibt, das sie fußläufig erreichen kann. Die 85-Jährige geht dort regelmäßig zum Reha-Sport und auch zum Yoga. Letztens habe eine viel jüngere Nachbarin zu ihr gesagt: „Dass sie das machen … ich bewundere sie.“
Wir suchen die „dienstältesten“ Mieterinnen und Mieter in Mülheim. Wohnen Sie auch schon sehr lange im selben Haus, länger als Charlotte L.? Dann sind wir gespannt auf Ihre Geschichte. Schreiben Sie uns per Mail an redaktion.muelheim@waz.de oder an die WAZ-Redaktion, Wallstraße 3a, 45468 Mülheim, Telefon-Kontakt: 0208-44308-31.
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