Mülheim. „Mich gibt es bald nicht mehr“, sagt die Holocaust-Überlebende Eva Weyl (87). An ihre Schilderungen werden Mülheimer Schüler noch lange denken.

Eva Weyl, fast 88 Jahre alt, Jüdin, Holocaust-Überlebende, erhebt ihre Stimme, und gleich ihr erster Satz trifft mit Wucht: „Vor 80 Jahren stand ich auf der Todesliste.“ Mehr als drei Jahre, damals noch als kleines Mädchen, verbrachte sie im Lager Westerbork im Norden der Niederlande. Dieses Lager war anders als die Vernichtungslager, die häufig im Vordergrund stehen, wenn jüdische Zeitzeugen sprechen.

In Westerbork wurde niemand gefoltert oder ermordet, es war „ein Ausnahmelager“, wie Eva Weyl sagt. Doch von hier aus fuhren Züge in Richtung Osten, mehr als 100.000 Menschen wurden der Vernichtung zugeführt, meist in Viehwaggons, darunter auch Anne Frank und ihre Familie. Eva Weyl, ihre Mutter und ihr Vater haben überlebt, und davon handelt die Geschichte, die die Zeitzeugin seit etlichen Jahren erzählt – unermüdlich, professionell, mit Herzenswärme. Bevorzugt besucht sie Schulen. Am Dienstag war die 87-Jährige in der Gustav-Heinemann-Gesamtschule (GHS) zu Gast, bereits zum fünften Mal, dank freundschaftlicher Kontakte zu Deutsch- und Sowi-Lehrer Sebastian Kreischer.

Eva Weyl spricht vor Mülheimer Gesamtschülern

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Die GHS trägt offiziell den Titel „Schule gegen Rassismus“, daran erinnert Eva Weyl gleich zu Beginn ihres Vortrages. Sie will zeigen, wohin Hass, Neid und Intoleranz führen, und dass man viel Courage braucht, um sich dagegen zu stemmen. Und dann präsentiert sie, per Laptop und Beamer, das erste von vielen historischen Fotos, die sie mitgebracht hat, eine Aufnahme aus den frühen dreißiger Jahren. Sie zeigt, wie zwei jüdische Schüler mit hängenden Schultern vor einer Tafel stehen, darauf Worte, die sie als „Feinde“ brandmarken. Zwölfjährige Jungen. Gedemütigt vor der ganzen Klasse, später womöglich ermordet. So fing es an.

Die Familie von Eva Weyl besaß ein gediegenes Kaufhaus in Kleve, doch ihre Eltern emigrierten schon kurz nach der Machtergreifung der Nazis in die Niederlande. Eva wurde 1935 in Arnheim geboren, heute lebt sie in Amsterdam. In das Lager Westerbork, südlich von Groningen, seien ihre Eltern im Januar 1942 aus freien Stücken gegangen, berichtet sie. In der Hoffnung, dass es nicht lange dauert.

Brillanten in ihren Mantelknöpfen versteckt

Dass Angst die junge Familie begleitete, beweist eine bewegende Anekdote, mit der Eva Weyl ihre Erinnerungsarbeit bereichert: Die Mutter hatte Geld in Brillanten angelegt und die wertvollen Steine mit ins Lager geschmuggelt. Sie waren auf das Mäntelchen der Tochter genäht, eingearbeitet in Knöpfe aus Stoff, ohne dass die Kleine davon wusste. Die Brillanten wurden auf diese Weise gerettet. Eva Weyl trägt einige davon heute als funkelnden Ring am Finger. „Wenn ich nicht mehr bin, wird er mit meiner Geschichte in der Gedenkstätte Westerbork liegen.“

Jugendliche der Gustav-Heinemann-Schule in Mülheim verfolgen den Vortrag der Zeitzeugin Eva Weyl konzentriert und durchaus bewegt. Sie hatten im Anschluss auch etliche Fragen an die Holocaust-Überlebende.
Jugendliche der Gustav-Heinemann-Schule in Mülheim verfolgen den Vortrag der Zeitzeugin Eva Weyl konzentriert und durchaus bewegt. Sie hatten im Anschluss auch etliche Fragen an die Holocaust-Überlebende. © FUNKE Foto Services | Martin Möller

Das Lager, ursprünglich von der niederländischen Regierung geplant als Flüchtlingscamp für Juden, die Deutschland verließen, wurde von den Nazis ab 1942 zum Durchgangslager für Deportationen umfunktioniert. Doch es sollte durch seine Ausstattung und seinen Charakter die Massenvernichtung zugleich vertuschen. Die Lagerkinder gingen regelmäßig zur Schule, es gab drei Mahlzeiten pro Tag, ein Theaterensemble, ein Orchester, ein erstklassig ausgestattetes Krankenhaus, einen Fotografen, der den Alltag dokumentierte. Eva Weyl führt viele seiner Bilder vor.

Mit der jüngsten Tochter des Lagerkommandanten befreundet

Eine „Scheinwelt“ und „riesige Täuschung“ nennt die Überlebende das umzäunte Lager, aus dem sie und ihre Eltern erst am 12. April 1945 von kanadischen Soldaten befreit wurden. „Es war das Tor zum Tod, doch in den Niederlanden sollte niemand glauben, dass man im Osten Juden vergaste.“

Lagerkommandant war der SS-Obersturmführer Albert Konrad Gemmeker, Vater von drei Mädchen. Mit seiner jüngsten Tochter freundete Eva Weyl sich an. Gemeinsam mit seiner Enkelin, Anke Winter, hat sie etliche Vorträge an Schulen gehalten. Sie wirbt für Verbindung, Versöhnung: „Man sollte Menschen nicht dafür verurteilen, was ihre Väter oder Opas getan haben.“

Jugendliche ab der siebten Klasse erlebten den Vortrag

Ihren Vortrag hörten in der Gustav-Heinemann-Schule etliche Mädchen und Jungen von Stufe sieben bis zwölf. So viele konnten dabei sein, wie ins Forum der Schule passten. Es wurde gelost. Jeder und jede wird etwas anderes in Erinnerung behalten. Bei Asli (12) ist es „das ungeheure Glück, das die Familie hatte, als der Zettel weggeworfen wurde“. Der Zettel, der bereits ihren Namen für die Deportationsliste trug. Den ein Freund in der Lagerverwaltung verschwinden ließ.

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Für Philipp (13) war es „etwas ganz Besonderes“, eine der letzten Zeitzeuginnen persönlich zu erleben, vom Leben im Lager zu hören, die alten Fotos zu sehen, etwa von den primitiven Sanitäranlagen: „Die Menschen hatten keinerlei Privatsphäre mehr.“ Und Ayla (12) wird wohl noch lange an „das Foto mit den Eiern“ denken, mit dem Eva Weyl ihren Vortrag beendete, um sich Fragen der Jugendlichen zu stellen. Besagtes Bild ist zweigeteilt: Links sieht man drei Eier mit unterschiedlich gefärbten Schalen: braun, hellbraun, weiß. Rechts ein riesiges Spiegelei mit drei Dottern. Eva Weyls Botschaft dazu: „Von außen sind wir verschieden, aber drinnen klopft das gleiche Herz.“

Holocaust-Überlebende: „Ihr seid meine Zweitzeugen“

Im Januar 2018 wurde Eva Weyl das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen, für ihr langjähriges Engagement als Zeitzeugin, für Frieden und Völkerverständigung. Am Dienstagabend, nach dem Vortrag in Mülheim, wurde sie anlässlich des Europatages in Kleve mit einer Ehrennadel ausgezeichnet: „Grenzland-Europäer des Jahres 2023“. Die 87-Jährige, die jünger wirkt, fährt noch im eigenen Auto von Termin zu Termin, doch im Bewusstsein, dass ihre Mission irgendwann enden wird. „Ich bin Zeitzeugin“, sagt sie zu den Mülheimer Jugendlichen, „mich gibt es bald nicht mehr, das ist normal. Darum seid ihr meine Zweitzeugen.“

Dieser Satz hat Julian (19) besonders beeindruckt. Er will ihn sich zu Herzen nehmen „Es gibt so viele Menschen, die wegen ihrer Religion, ihrer Hautfarbe, ihrer sexuellen Orientierung verfolgt und bestraft werden. Wir dürfen Hass nie wieder zulassen.“