Mülheim. In der Stadt sind vier weitere Stolpersteine verlegt worden. Zum Gedenken an jüdische Opfer des Holocaust aus Mülheim. Was Angehörige dazu sagen.

Oberbürgermeister Marc Buchholz zitiert ein jüdisches Sprichwort: „Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist.“ Um das zu verhindern, wurden jetzt an der Friedrich-Ebert-Straße 73 und an der Leineweberstraße 47 Stolpersteine verlegt, die mit Namen und Lebensdaten an vier jüdische Mülheimer erinnern, die Opfer des Holocaust geworden sind.

Es waren vier Menschen von insgesamt sechs Millionen, die zwischen 1933 und 1945 im Auftrag des NS-Regimes und damit im Namen des deutschen Volkes diskriminiert, ausgegrenzt, ihrer sozialen Existenz beraubt und letztlich ermordet wurden.

Zwei Angehörige der Holocaust-Opfer reisen extra aus Berlin nach Mülheim

„Wir danken für das Engagement der Mülheimer Stadtgesellschaft, die unseren Verwandten an ihrem letzten frei gewählten Wohnort in ihrer ehemaligen Heimatstadt einen Ort der Erinnerung geschaffen hat. Das Schicksal unserer Verwandten, die durch Krieg und Gewalt aus ihrem Leben gerissen worden sind und die für immer in unseren Herzen bleiben, mahnt uns heute und in Zukunft zur Menschlichkeit, zu Toleranz und sozialem Zusammenhalt“, sagten Elke Tischer und ihr Bruder Hans-Joachim Gutmann, die zur Verlegung der Stolpersteine an der Friedrich-Ebert-Straße 72 aus Berlin angereist waren.

Sie kamen nicht nur zur Verlegung der Stolpersteine, sondern führten auch als Zeitzeugen Gespräche mit den Grundschülern an der Zunftmeisterstraße und mit Luisenschülern. „Erinnern, vergeben und versöhnen. Das ist nicht nur im Rückblick auf die NS-Opfer in den Jahren 1933 bis 1945, sondern auch heute angesichts des Krieges in der Ukraine zwischen dem ukrainischen und dem russischen Volk nötig und hoffentlich früher als später auch möglich“, schlug OB Marc Buchholz den Bogen zur aktuellen Weltpolitik.

Stolpersteine in Mülheim sollen einen Ort des Erinnerns schaffen

Bei der nachfolgenden Stolpersteinverlegung vor dem Haus an der Leineweberstraße 47 betonte die Buchhändlerin Dr. Ursula Hilberath als eine der Stolperstein-Stifterinnen: „Ich freue mich darüber, einen Beitrag dazu geleistet zu haben, Menschen dem Vergessen zu entreißen und ihnen einen Ort des Gedenkens zu schaffen und damit postum den Plan der Nationalsozialisten zu durchkreuzen, die die Erinnerung an die von ihnen ermordeten Menschen auslöschen wollten.“

Der Leiter des Stadtarchivs, Dr. Stefan Pätzold, nannte bei der Stolpersteinverlegung an der Leineweberstraße „die Erinnerung an die Holocaust-Opfer eine seelisch belastende, aber gesellschaftspolitisch notwendige Aufgabe, der wir uns nicht nur hier in Mülheim stellen müssen.“ Ausdrücklich dankte Pätzold seiner Mitarbeiterin Annett Fercho und Friedrich-Wilhelm von Gehlen von der inzwischen aufgelösten Arbeitsgemeinschaft Stolpersteine für ihre gemeinsam geleistete Recherchearbeit, die die Verlegung der jüngsten Stolpersteine und die damit verbundene Veröffentlichung der Opfer-Biografien auf der Internetseite des Stadtarchivs erst möglich gemacht hätten.

Insgesamt gibt es 168 Stolpersteine im Mülheimer Stadtgebiet

Vor der aktuellen Stolpersteinverlegung an der Friedrich-Ebert-Straße und an der Leineweberstraße sind an 92 Stellen im Stadtgebiet 168 Stolpersteine verlegt worden, die, mit 95 Euro bezahlt von Stiftern aus der Bürgerschaft und jeweils an den letzten frei gewählten Wohnorten verlegt, an Opfer der NS-Diktatur erinnern.

Das inzwischen bundesweit praktizierte Erinnerungsprojekt der Stolpersteine wurde 1993 vom Kölner Künstler Gunter Demnig entwickelt, 2004 in Mülheim zunächst von Schülern der Realschulen Stadtmitte und der Realschule Mellinghofer Straße aufgegriffen und später von den Mitgliedern der vom Stadtarchiv unterstützten Arbeitsgemeinschaft Stolpersteine fortgeführt. Nach heutigen Erkenntnissen sind 270 Mülheimer dem Holocaust zum Opfer gefallen. 1933 zählten 650 Mülheimer zur Jüdischen Gemeinde, deren 1907 am Viktoriaplatz errichtete Synagoge in der Reichspogromnacht vom 9. November niedergebrannt wurde.

Die jüdischen Opfer gehörten zu alteingesessenen Metzgerfamilien in Mülheim

Vor dem Haus Friedrich-Ebert-Straße 73 (die zwischen 1916 und 1945 Hindenburgstraße hieß) erinnern jetzt Stolpersteine an Lina Meyer-Kann (1865-1948), ihre Tochter Jeannette Gutmann-Kann (*1888) und an ihre Söhne, Hans-Josef (*1922), Fritz (*1924) und Kurt Gutmann (1927-2017). Vor dem Haus Leineweberstraße 47 erinnern Stolpersteine an die Eheleute Richard Meyer (*1903) und Erna Meyer-Nolden (*1905).

Alle genannten jüdischen Mitbürger gehörten zu alteingesessenen Metzgerfamilien, die nach 1933 von den Nazis um ihre Geschäfte und Wohnungen gebracht wurden und vor ihrer Deportation am 22. April 1942 zwangsweise in einem sogenannten Judenhaus an der Bahnstraße 44 interniert wurden. Ab 1936 wurden jüdische Unternehmer dazu gezwungen, ihre Firmen zu schließen. Außerdem durften jüdische Kinder nicht länger weiterführende Schulen besuchen.

Zwei Kinder konnten durch Transport nach Schottland in Sicherheit gebracht werden

Während Fritz und Kurt Gutmann den Holocaust überlebten, weil sie 1934 und 1939 von ihrer Mutter mit einem Kindertransport nach Schottland in Sicherheit gebracht werden konnten, gab es für sie und ihren ältesten Sohn Hans-Josef keine Rettung. Wann und wo sie sowie die Eheleute Meyer ermordet wurden, ob im ukrainischen Ghetto Itzbica oder im nahen Konzentrationslager Sobibor, ist heute nicht mehr feststellbar. Nach Kriegsende wurden sie vom Amtsgericht Mülheim mit Datum vom 8. Mai 1945 für tot erklärt.

Kurt Gutmann kehrte 1946 als britischer Soldat kurzzeitig nach Mülheim zurück. Später gründete er in Berlin eine Familie, arbeitete als Dolmetscher und engagierte sich gegen Rassismus und Extremismus. Fritz Gutmann konnte in England Mathematik und Physik studieren und später dort als Mathematikprofessor arbeiten. Lina Meyer-Kann konnte mithilfe ihrer anderen Kinder Max, Albert und Selma 1939 nach Argentinien fliehen, wo sie bis zu ihrem Tod (1948) lebte.