Mülheim. Die Bewältigung des Alltags ist für eine achtköpfige Familie aus Mülheim keine kleine Herausforderung – und jetzt steigen auch noch die Preise.

In etwa jeder achten Familie in Deutschland werden drei oder mehr Kinder groß. Wie lebt es sich mit sechs oder sogar neun Sprösslingen? Und wie kommen XL-Familien über die Runden, seit die Preise für Lebensmittel und Energie so stark klettern?

Mutter, Vater, sechs Kinder – geht es zum Einkaufen, ist der Wagen der Großfamilie Nagel immer bis oben hin randvoll. In ihrem Mülheimer XL-Haushalt will der Kühlschrank ständig neu gefüllt sein: Äpfel säckeweise, Eier palettenweise, Milch in Zehnerkartons. Die Spülmaschine läuft dreimal täglich. Der Alltag ist gut organisiert. Und die Familie jongliert finanziell. Denn die seit Monaten anhaltende Inflation trifft Haushalte mit vielen Kindern überproportional stark.

Familie Nagel aus Mülheim: Lieber Bio-Lebensmittel oder warme Räume?

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„Lebensmittel haben den größten Preissprung gemacht“, sagt Mario Nagel (46). 2021 reichten 1150 Euro monatlich für Hygieneartikel und Lebensmittel, 2022 brauchte die Familie dafür 1400 bis 1500 Euro. Sie kauft auch im Angebot und dann mal auf Vorrat, zudem auf dem Bauernhof. Dort seien die Preise nicht ganz so stark geklettert. „Gute Ernährung ist uns sehr wichtig, dann drehen wir die Heizung lieber noch weiter runter.“ Auf Obst, Gemüse und einige Waren in Bio-Qualität verzichten die Nagels mit einer Tochter und fünf Söhnen zwischen 10 und 16 Jahren nicht.

Mario Nagel arbeitet bei einer Landesbehörde, Marion Nagel ist Grundschullehrerin. „Es geht noch relativ gut mit unseren zwei Vollzeiteinkommen. Aber wir merken, dass alles teurer wird“, schildert der Familienvater. Die Schule, in der Marion Nagel tätig ist, liegt in einem sozial benachteiligten Viertel. Dort stellt sie fest: „Die Kinder haben kein Obst und Gemüse mehr dabei. Die Familien haben kein Geld dafür. Und vielen sind auch keine gemeinsamen Aktivitäten mehr möglich“, erzählt die 44-Jährige. „Das ist gravierend, das ist Armut. Zumindest bei gesunden Lebensmitteln müssten die Preise dringend gesenkt werden, zum Beispiel über die Mehrwertsteuer.“

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Wo es der Mülheimer Familie mit sechs Kindern im Alltag schwer gemacht wird

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Der älteste Sohn Lars (16) begnügt sich im Zimmer mit mittlerweile 17 bis 18 Grad. „Früher war ich so ein Experte, der schon mal das Fenster auf Kippe gelassen hat bei laufender Heizung. Jetzt sparen wir alle Energie.“ Insgesamt ist die Temperatur im Haus um zwei Grad runtergeregelt. Auch die Waschmaschine läuft bei gesenkter Gradzahl. Der Trockner wird seltener angestellt, berichtet Marion Nagel. Die enorm gestiegenen Spritkosten belasten die Familie nicht so sehr, denn alle sind ohnehin viel mit Bus, Bahn und Fahrrad unterwegs.

Der Alltag ist mit einer so großen Familie nicht immer einfach. Familie Nagel bemängelt Eintrittspreise für Zoo, Theater oder Freizeitparks. „Sogenannte Familienkarten sind in der Regel für zwei Erwachsene und ein oder zwei Kinder“, sagt Mario Nagel. „Man überlegt sich schon oft, ob man da noch hingeht.“ Urlaub machen die acht schon seit Jahren auf dem Bauernhof oder sie gehen Wandern – nicht kostenintensiv. Marion Nagel betont: „Es macht große Freude mit vielen Kindern. Schade, dass viele sagen, dass sie keine Kinder wollen.“ Ohne Kinder werde es künftig keine Leistungen mehr aus den Sozialsystemen – Krankenversicherung oder Rente – geben. Das Paar fände es fair, das bei aktuellen Berechnungen zu berücksichtigen, etwa mit einem Renteneintrittsalter gestaffelt nach Kinderzahl.

Aus welchen gesellschaftlichen Schichten XL-Familien stammen

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Fakt ist: Neben Kindern in alleinerziehenden Familien sind in Deutschland vor allem Jungen und Mädchen in Mehrkindfamilien armutsgefährdet. Das zeigen Studien immer wieder. Auch zu den Tafeln kommen viele Eltern mit mehreren Kindern, weiß der NRW-Landesverband. Dabei sind Mehrkindfamilien Leistungsträger der Gesellschaft und tragen erheblich dazu bei, dass der Generationenvertrag der solidarisch organisierten Sozialversicherungssysteme funktioniert, wie auch der Verband kinderreicher Familien Deutschland (VKFD) unterstreicht. Es gebe rund 1,3 Millionen Mehrkindfamilien bundesweit – Familien mit drei oder mehr Kindern. Das entspreche etwa jeder achten Familie. Die Politik müsse mehr für sie tun, mahnt VKFD-Chefin Elisabeth Müller.

XL-Familien sind oft mit Vorurteilen konfrontiert, ergänzt Sprecherin Laura Schlichting. „Mal heißt es, sie seien privilegiert, vermögend, leisten sich Nannys für ihre Kinder.“ Das andere Klischee laute „Problemfamilien“. Beides gehe an der Realität vorbei. „Tatsächlich kommen Mehrkindfamilien aus der Mitte der Gesellschaft und sie brauchen viel mehr Sichtbarkeit und Unterstützung – gesellschaftlich und politisch.“

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