Mülheim. In Polen geboren, kam Jeanette Degenhardt für die Liebe nach Mülheim. Nun feiert sie ihren 100. Geburtstag, blickt auf ein bewegtes Leben zurück.
„Aus für Braunkohle“ titelt die Zeitung am Tag unseres Besuchs. Jeanette Degenhardt hält ihrer Tochter Rita das Blatt unter die Nase. „Was bedeutet das jetzt“, fragt sie kopfschüttelnd. „Ach, Mutti“, antwortet ihre Tochter. „Das erklär’ ich dir später.“ Es ist viel zu tun dieser Tage: Jeanette Degenhardt feiert am 3. Dezember ihren 100. Geburtstag. Ein Banner, das quer über dem Balkon hängt, soll eine Einladung für alle Nachbarn sei, Rita Krier hat Gulasch vom Sternekoch aus Bad Godesberg bestellt. „Und natürlich Kaffee und Kuchen – und viel Sekt“, sagt sie lachend.
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Seit 1972 lebt Jeanette Degenhardt in dem eleganten Bungalow in Menden – eine schöne Gegend, nur einen Steinwurf von der Ruhr entfernt. „Das Haus ist eines von dreien“, sagt sie. „Mein ganzer Stolz!“ Heute lebt sie allein in der ersten Etage, das Erdgeschoss ist vermietet, die kleine Anliegerwohnung dient ihrer Hilfe der „Pflegehelden“ als Unterkunft.
Mülheimerin wuchs in Polen auf und erlebte eine schöne Kindheit
100 Jahre Leben – wer ist Jeanette Degenhardt, wie würde sie sich selbst beschreiben?. „Arbeit. Ich habe sehr, sehr viel gearbeitet und mit meinem Mann zusammen zwei Geschäfte aufgebaut. Tapeten, Farben, Lacke, das war unser Geschäft“, erzählt die Seniorin. „Aber diejenige, die wirklich im Laden stand und gearbeitet hat, war ich. Mein Mann machte gern im Hintergrund die Bücher.“
Am 3. Dezember 1922 im polnischen Kupinin (ehemals Falkenhorst) geboren, erlebt Jeanette Degenhardt eine bilderbuchähnliche Kindheit. „Eine sehr, sehr schöne Zeit auf dem großen Gut meiner Eltern. Es war sehr behütet alles und wunderschön. Wir lebten dort zusammen mit Pferden und Kühen und all den anderen Tieren, waren viele Menschen und es fehlte uns an rein gar nichts.“
Von Kupinin nach Mülheim: eine Flucht zu Fuß
Ein paar Jahre später und alles war anders. Der Krieg begann, wenn auch zunächst kaum spürbar fernab auf dem polnischen Land. 1940 dann gab es ein Konzert in Warschau: „Da bin ich mit meinen Freundinnen hin, das war aufregend für uns, wir waren alle etwa 18 Jahre alt“, erzählt Jeanette Degenhardt. „Es spielte auch eine deutsche Band. Meine Freundinnen fragten mich: ‘Sag, wenn du dir jetzt hier einen aussuchen könntest, welchen würdest du nehmen?’“ Eine Frage, auf die die junge Jeanette Degenhardt sofort die Antwort weiß: „Nur den am Schlagzeug! Meine Freundinnen sind in der Pause zu ihm und haben ihn mir gebracht – und so lernte ich meinen Hans kennen!“
Einige Wochen später verließ Jeannette Degenhardt ihr Elternhaus. Zu Fuß ging sie etwa drei Wochen durch Winter und Krieg bis nach Mülheim, der Heimatstadt ihres Hans’. Teilweise, so erzählt sie heute, wurde sie von Militärfahrzeugen mitgenommen, doch den größten Teil ging sie selbst. In dieser Zeit schlief sie in Scheunen oder durfte bei Fremden auf dem Fußboden liegen. Der Wechsel von einem Leben auf dem Land, umgeben von Natur und Glück, in ein graues, zerbombtes Mülheim war ein Schock für ihre Mutter, sagt Tochter Rita Krier. Dort, im Elternhaus von Hans angekommen, begann das Paar nach Kriegsende damit, sein erstes Geschäft aufzubauen. Ihre Eltern hat Jeanette Degenhardt nie wiedergesehen.
Seit 1982 lebt sie verwitwet in ihrem Haus, vermisst die alte Zeit. „Die Jugend ist jedenfalls besser als das Alter. Mir fehlt meine Flexibilität, selbst laufen und rausgehen zu können. Kilometerweit habe ich das getan früher“, schwelgt die 100-Jährige in Erinnerungen. „Dass ich hier gefangen bin, das entspricht nicht meiner Natur.“ Trotz allem – besonders schätzt Jeanette Degenhardt die Urlaube mit ihrer Tochter Rita, „wir waren jedes Jahr gemeinsam am Timmendorfer Strand.“ Rita nickt. Sie hat ein sehr enges Verhältnis zu ihrer Mutter, kommt jede Woche aus Bad Godesberg zu Besuch.
Mülheimerin erhält regelmäßig Besuch von ihrer Tochter
„Mutti ist so positiver Mensch, bis heute. Das bewundere ich so an ihr“, sagt sie. Dabei hatte Jeanette Degenhardt es nicht immer leicht im Leben, die viele Arbeit steckt ihr bis heute in den Knochen. „Ich habe sehr viel geleistet in meinem Leben, auf meinen Geschäftssinn bin ich wirklich stolz“, sagt Degenhardt, gesteht aber auch ein: „Aber die elendige Schufterei würde ich heute so nicht mehr tun. Ich habe bis nachts um drei im Laden gestanden, Tapeten gerollt, Farbeimer geschleppt, das Lager aufgeräumt – und stand am Morgen wieder dort und habe gearbeitet. Und dazu hatte ich ja auch noch zwei Töchter!“
Zur Vollendung ihres 100. Lebensjahres gibt sie jungen Frauen einen Rat mit auf den Weg: „Nehmt bloß den richtigen Mann und macht euch nicht so kaputt wie ich! Seid nicht so dumm. Und allen anderen: Haut das Geld auf den Kopf, wenn ihr welches habt! Am Ende bekommen es sonst nur die, die es nicht verdienen, gebt es aus! Das Leben kam bei mir immer zu kurz.“