Mülheim. Karneval im Wandel der Zeit – die Mülheimer ließen sich die gute Laune über Jahrzehnte nie verderben und frönten der Narretei. Was sich änderte.
Unter dem Motto: „Eine Halle für alle“, betritt der Hauptausschuss Groß-Mülheimer Karneval am kommenden Sonntag, 22. Januar, um 15.30 Uhr Neuland mit einer närrischen Sitzung für jeden und jede auf historischem Terrain, der Alten Dreherei in Broich.
Nach dem Zweiten Weltkrieg feierten die Karnevalisten ihre Narren- und Kappensitzungen vorzugsweise sonntags, weil der Samstag damals noch ein voller Arbeitstag war und die Arbeitswoche 48 Stunden hatte. Im frühen Nachkriegsdeutschland war die Zeit für Narretei knapp. Der Wiederaufbau wollte bewerkstelligt werden. „Als ich in den fünfziger Jahren, als Cowboy verkleidet, zu einer Karnevalsveranstaltung fuhr, hat man mich wie einen Außerirdischen betrachtet“, erinnerte sich der langjährige Vormann der Mölmschen Houltköpp, Horst Ludwig in einem Gespräch mit dieser Zeitung.
Als 1958 der erste Mülheimer Rosenmontagszug durch die Innenstadt rollte
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Dass sich 1957 eine Mülheimer Karnevalsgesellschaft mit dem Namen Mölmsche Houltköpp gründete, zeugte von närrischer Selbstironie, war dieser Karnevalsverein doch aus dem Bund der Hirnverletzten hervorgegangen. Nach dem Krieg, der viele Menschen fürs Leben gezeichnet hatte, wollten auch die Mülheimerinnen und Mülheimer wieder gemeinsam feiern und lachen, um die so lange vermisste Sonnenseite des Lebens zu genießen. Das westdeutsche Wirtschaftswunder der fünfziger Jahre sorgte auch für Hochkonjunktur im mölmschen Karneval. In diesem Jahrzehnt wurden mit der Knattsch Geck (1950), Mölm Boowenaan (1955), Rote Funken (1958), MCC und Röhrengarde (1959) gleich fünf Karnevalsgesellschaften aus der Taufe gehoben.
Gemeinsam gefeiert wurde damals bevorzugt in Gaststätten, die zu jener Zeit noch fast alle einen eigenen Veranstaltungssaal hatten. Mitten im Wirtschaftswunder brachen die mölmschen Jecken auf zu neuen Ufern und bündelten ab 1957 ihre Kräfte, um am Rosenmontag 1958 den ersten Mülheimer Rosenmontagszug durch die Innenstadt ins Rollen zu bringen und mit dem Brauer Erich Ibing den ersten Stadtprinzen zu proklamieren. Bis dahin waren viele mölmsche Narren im Duisburger Rosenmontagszug mit von der fröhlichen Partie gewesen.
In Zeiten der NS-Diktatur gründeten Karnevalisten die Mülheimer Gesellschaft MüKaGe
Zu ihnen gehörten auch Mitglieder der 1937 in Saarn gegründeten Ersten Großen Mülheimer Karnevalsgesellschaft und die 1947 aus der Kolpingfamilie Broich/Speldorf hervorgegangene KG Blau Weiß. Zu ihrem Namen kam die KG Blau Weiß dabei zufällig, weil die Kolpinggeschwister weiße Narrenkappen bestellt, aber blau-weiße Narrenkappen geliefert bekamen. Im Jahr 1947 war man nicht wählerisch und nahm, was man bekommen konnte.
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Das galt auch für das Jahr 1937, als Willi Enaux und seine Karnevalsfreunde in der Gaststätte Rosendahl an der Düsseldorfer Straße aus Spaß an der Freud die MüKaGe zu närrischem Leben erweckte, weil man sich auch in Zeiten der NS-Diktatur den geselligen Frohsinn nicht verbieten lassen wollte. Wer sich anschloss, hatte keine Lust auf die Karnevalssitzungen, die das NS-Freizeitwerk Kraft durch Freude zur Fünften Jahreszeit mit schunkelnden Volksgenossen in der Stadthalle über die Bühne gehen ließ, garantiert ohne einen damals lebensgefährlichen politischen Witz über das herrschende Hitler-Regime. Ein Fest der geselligen Lebensfreude feiern, auch wenn die Zeiten nicht zum Lachen sind. Das wollten auch die blauweißen Kolping-Karnevalisten, die ein Jahrzehnt später ab 1947 mit ihrer Narretei dem Hunger und der Nachkriegsnot trotzten.
Ab den sechziger Jahren konkurrierte der Mülheimer Saalkarneval mit den TV-Sitzungen
Damals hieß es in einem Karnevalsschlager „Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien. Wir sind keine Menschenfresser, aber küssen dafür umso besser!“ Auch das war närrische Selbstironie in einem von den alliierten Siegermächten des Zweiten Weltkrieges besetzten und geteilten Land, zwei Jahre nach dem Ende eines industriellen Massenmordes und eines Krieges, der von deutschem Boden ausgegangen war und millionenfaches Leid über die Menschheit gebracht hatte.
Ab den sechziger Jahren musste der mölmsche Saalkarneval, Marke Eigenbau, zunehmend mit den Fernsehsitzungen aus den rheinischen Karnevalshochburgen konkurrieren. Das närrische Publikum wurde mit dem vergleichenden Blick auf die Mattscheibe anspruchsvoller und wollte sich nicht länger mit den närrischen Eigengewächsen auf der Bühne begnügen.
Mölmsche Narren bewahrten sich ihr soziales Herz
Jetzt wurden der 1950 wiedereröffnete Festsaal des Handelshofes und die 1957 wiedereröffnete Stadthalle zum närrischen Schauplatz attraktiver, aber auch teurer Prunksitzungen, die nicht mehr ohne eingekaufte Karnevalskünstler auskamen, die am organisierten Frohsinn der Fünften Jahreszeit verdienen wollten.
Der Kommerzialisierung des Karnevals zum Trotz, bewahrten sich die mölmschen Narren ihr soziales Herz, indem sie ab 1960 den Frohsinn unentgeltlich auch in die Pflegeheime der Stadt brachten, ab 1970 die Seniorensitzung Lachende Herzen in der Stadthalle über die Bühne gehen ließen und seit 1992 auch das Dorf der Theodor-Fliedner-Stiftung zu einem Hotspot der Fünften Jahreszeit gemacht haben.