Mülheim. Zu Hause in der Ukraine fallen Bomben, Weihnachten feiern sie mit ihren Kindern in Mülheim. Was Geflüchtete am Fest der Liebe empfinden.
In deutschen Wohnzimmern flackern bald wieder Kerzen am Baum, Geschenke werden ausgepackt, Menüs aufgetragen. Familien von nah und fern finden zusammen, feiern das Fest der Liebe. Was aber machen Menschen, die von ihren Liebsten getrennt sind, Tag für Tag um deren Leben bangen müssen? Wie ergeht es ukrainischen Flüchtlingen? In Feierlaune sei sie ganz bestimmt nicht, sagt Hanna Zhovta, deren Mann im Bombenhagel in Kiew festsitzt. Doch für die Kinder sei „ein wenig Normalität“ wichtig, „etwas Freude“. Und so steht nun ein Fest bevor, das auch viel darüber verrät, dass in Hannas Leben nur noch wenig so ist, wie es einmal war.
Anfang 2022 ist die Rechtsanwältin (44) mit ihrem Mann Vladyslav und ihrem Sohn Pavlo in eine neue Wohnung in der ukrainischen Hauptstadt gezogen – alles war angerichtet für eine gute gemeinsame Zeit. Kurz darauf begann der russische Angriffskrieg; Mutter und Kind mussten fliehen. Seit März haben sie Vladyslav, der als theoretisch wehrfähiger Mann ja nicht ausreisen darf, nicht mehr gesehen. Hanna arbeitet jetzt als Putzhilfe. Und Pavlos Alltag ist bestimmt vom Thema Schule: Am Vormittag lernt er an der Karl-Ziegler-Schule, kämpft mit dem schwierigen Deutsch, am Nachmittag sitzt er via Videokonferenz im ukrainischen Klassenzimmer. Zeit für Unbeschwertheit bleibt da wenig. „Die Kinder wollen den Anschluss zu Hause nicht verlieren“, erklärt Hanna, die Doppel-Belastung aber setze vielen massiv zu.
„Wir möchten mit den Russen keine Traditionen mehr teilen“
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Das Leben steht kopf, ist beherrscht von Sorgen und Nöten. Das berichtet auch Hannas Freundin Oksana Lytvyn (44), die mit drei Kindern nach Mülheim geflohen ist. Ihre Wut auf die Russen ist so groß, dass es schon fast eine Befreiung sei, Weihnachten diesmal nach klassisch deutscher Art am 24. Dezember zu begehen. „Nachdem, was wir erlebt haben, möchten wir keine Traditionen mehr mit den Russen teilen.“ Heißt auch, dass der 6. Januar, der bis dato wichtigste Festtag, möglichst keine Rolle mehr spielen soll. Denn es ist der Feiertag, den auch das verhasste Nachbarland zelebriert. „Und davon wollen wir einfach weg.“
Dabei gibt es durchaus auch liebgewonnene Traditionen, an die Hanna und Pavlo, Oksana, Andrii (17), Illia (15) und Katja (6) gern zurückdenken. Da sind zum Beispiel die zwölf süßen und herzhaften Gerichte, die am 6. Januar für gewöhnlich auf dem Tisch stehen, und die – je nach Auslegung – an die Apostel oder die Monate des Jahres erinnern sollen. Die Flüchtlinge schwärmen von der Getreidespeise Kutja, mit Rosinen, Mohn, Walnüssen, Honig. Und von Uswar, einem traditionellen Getränk ähnlich einem Kompott aus Trockenfrüchten wie Apfel, Birne oder Pflaume.
Sobald sich eine Tür öffnet, werfen die Kinder Getreidesamen ins Haus: Das bringt Glück
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Schön war auch immer die Zeit, als man singend von Haus zu Haus zog. Das war so Sitte am 6. Januar – selbst der 17-jährige Andrii erinnert sich noch, wie sehr er das als Kind geliebt hat. Gesungen werden seit Generationen die gleichen Lieder. Und sobald sich eine Tür öffnet, werfen die Kinder Getreidesamen ins Haus. „Man sät quasi Glück und bekommt Süßigkeiten dafür.“
Dieser Tag war immer ein warmes Fest im Kreis der Familie. „Dann kamen auch die Patenkinder vorbei“, so Oksana. Doch auch das wäre jetzt in der Heimat wohl nicht mehr so einfach möglich: „Es gibt viele Menschen, die sich über den Krieg entzweit haben, weil sie so unterschiedlich darüber denken.“ Hanna kennt das aus der eigenen Familie: „Das Patenkind meiner Mutter – eine Frau, die mittlerweile Mitte 20 ist – hat den Kontakt komplett abgebrochen. Sie ist überzeugt davon, dass die Russen gut sind.“
„Vielleicht haben sie auch einfach nur Angst vor dem Geheimdienst ...“
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Die unterschiedliche Sicht aufs Nachbarland und auf sein brutales Vorgehen zerreiße selbst engste Bande, erzählt Hanna: „Wir haben keinen Kontakt mehr zu den Schwestern meines Vaters, die auf der besetzten Krim leben. Wir wissen nicht, was mit ihnen ist. Und wir wissen auch nicht, was sie glauben: Sie haben behauptet, dass die Russen sie befreien wollten – vielleicht haben sie aber auch einfach nur Angst vor dem Geheimdienst ...“
Immer wieder drängt sich der Krieg ins Gespräch übers Weihnachtsfest. Selbst Pavlo hat neben ganz normalen Wünschen eines Zehnjährigen – „Filzstifte und ein Computer zum Zocken“ – vor allem das Verlangen nach Frieden: „Ich möchte so gern in die Ukraine zurück.“ Illja vermisst seine Freunde, sein Zuhause. „Ich bin viel glücklicher da.“ Deutschland sei ein gutes Land, sagt der 15-Jährige, „vielleicht würde ich bleiben wollen, wenn ich älter wäre und besser Deutsch sprechen könnte“, so aber sei er einfach viel zu oft „traurig, weil ich an so vielen Sachen nicht teilhaben kann, so oft nicht verstehe, was passiert“.
„Ich hoffe so sehr, dass der Krieg bald vorbei ist“
Seinem großen Bruder geht es besser; er hat schon in der Ukraine mehrere Jahre Deutsch gelernt und kann sich mittlerweile hervorragend verständigen. Er möchte in Kürze von Mülheim nach Kiel ziehen, um nach vorbereitenden Monaten an einem Studienkolleg an der Uni Wirtschaftsinformatik zu studieren. Ein Weihnachtswunsch könnte die feste Zusage des Studienplatzes sein oder die erste eigene Wohnung. „Doch das habe ich ja alles selbst in der Hand; das kann ich ganz allein durch mich schaffen.“ Mit dem Krieg aber sei das eben anders: „Ich hoffe so sehr, dass er bald vorbei ist.“
Ein Päckchen mit vielen Socken: Damit keiner kalte Füße hat
Hanna Zhovta und ihre Freundin Oksana arbeiten als Putzhilfen im Hotel Thiesmann an der Dimbeck. Dort hat Oksanas Sohn Andrii kürzlich eine erste kleine Weihnachtsgeschichte erlebt: „Eine Frau Mitte 80, die zu Gast im Hotel war, hat mich angesprochen und wollte uns helfen, als sie unsere Geschichte gehört hat.“
Sie habe gefragt, was die Kinder sich wünschen und habe ihnen später ein Päckchen mit Schreibblocks und Textmarkern geschickt sowie mit Süßigkeiten – und ganz viele Socken. „Sie wollte, dass wir im Winter auf jeden Fall warme Füße haben, selbst wenn wir Energie sparen müssen“, so Andrii. Die alte Dame habe im Zweiten Weltkrieg Flüchtlinge aufgenommen. „Ich habe das Gefühl, dass sie mich versteht. Sie kann sich auch noch an Flugzeuge mit Bomben erinnern – sie hat erlebt, was ich erlebt habe.“
Im Wohnzimmer von Hannas Schwester Katerina, die seit rund 20 Jahren in Deutschland lebt und Hanna und Pavlo bei sich aufgenommen hat, steht eine geschmückte Tanne und Bescherung ist „selbstverständlich an Heiligabend“. Auch das war in der Ukraine anders; Geschenke gab’s an Silvester oder Neujahr. Den Kindern ist das nicht so wichtig, sie sind aufgeregt wie eh und je. Es werden zwar nicht viele Geschenke sein, dafür reicht das Geld nicht, doch es wird glückliche Momente unterm Baum geben. Das ist Hanna, Oksana und Katerina wichtig.
Die nicht enden wollende Ungewissheit mache sie kaputt
Sie selbst werden wohl nur schlecht abschalten können – die Gedanken sind in Kiew und all den anderen Orten unter Beschuss. Hanna sehnt sich nach dem „Siegestag“ – „erst dann wird es mir besser gehen und ich werde wieder ruhiger“. Die nicht enden wollende Ungewissheit mache sie kaputt – zumal an jedem einzelnen Tag wirklich schlechte Nachrichten aus der Heimat kommen können.
Oksana freut sich auf ihren Mann Oleksij, dem als dreifacher Vater die Ausreise erlaubt ist, und der über Weihnachten eine Woche zu Besuch sein wird. Sieben Tage wird sie dann nicht um ihn bangen müssen – so wie erst kürzlich wieder, als es am Hauptbahnhof in Kiew Explosionen gab – „wir wohnen da ganz in der Nähe“. Oksana blickt zu Weihnachten nach vorn: „Ich wünsche mir, dass alle Flüchtlingskinder, die jetzt im Ausland sind, eine gute Bildung bekommen – und hinterher die Ukraine wieder aufbauen.“