Mülheim. Dr. Lisa Schmidberg aus Mülheim ist die „Cannabis-Ärztin“: Mit dem Stoff hilft sie kranken Menschen und will nie wieder „normale“ Ärztin sein.
In Lisa Schmidbergs Leben dreht sich vieles um Cannabis. Wer jetzt denkt, dass die 27-Jährige gerne mal „einen durchzieht“, „kifft“ oder „bufft“, fehlt weit. „Eigentlich“, sagt die Mülheimerin, „stehen diese Worte für mich auf einer roten Liste.“ Dr. Lisa Schmidberg, wie es korrekt und vollständig heißt, ist Ärztin. Nach ihrem Studium in Frankfurt am Main ist sie den Weg in die freie Wirtschaft gegangen und arbeitet als „Cannabis-Ärztin“, wie sie selbst sagt.
Gegen Ende ihres Studiums stellte sich bei Schmidberg eine Ernüchterung ein. Die romantische Vorstellung von der Arbeit als Ärztin erwies sich zunehmend als realitätsfern. „Ich habe einfach festgestellt, dass unser Gesundheitssystem den Menschen nicht in dem Maße hilft, wie ich mir das wünschen würde.“ Auf ein Symptom folgt ein Medikament, im besten Falle eine Heilung. „Aber so leicht ist das meistens nicht und die Patienten landen in einem Hamsterrad aus Arztbesuchen und Medikamenteneinnahmen.“ Ein System, in dem sich Lisa Schmidberg nicht sieht.
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Mülheimerin studiert in Frankfurt am Main Medizin
„Vermutlich war es Zufall, dass mir das Thema Cannabis-Therapie in dieser Zeit mehrmals begegnet ist“, sagt sie heute, während sie, in einem Café der Mülheimer Altstadt sitzend, den Milchschaum ihres Latte macchiato mit dem Löffel unterrührt. Im Studium selbst, erinnert sich die junge Frau zurück, hat Cannabis als Arznei keine Rolle gespielt. „Nur einmal wurde kurz am Rande erwähnt, an welchen Stellen im Körper THC ansetzt.“ Mehr als eine Randnotiz war es nicht, für Lisa Schmidberg aber der erste Berührungspunkt mit ihrem künftigen Beruf. „Ich habe ein paar Studien aus den USA gelesen, weil mich das Thema interessiert hat. Dort war die Behandlung mit medizinischem Cannabis längst etabliert.“
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Und auch wenn Schmidberg ihre eigene Doktorarbeit über ein ganz anderes Thema schrieb – „Aluminium“, erklärt sie auf Nachfrage mit einem Lächeln und einer abwinkenden Handbewegung –, brachte ihr Doktorvater das Thema Cannabis-Therapie erneut auf. „Er hat mir erzählt, dass er eine Arbeit aus dem Bereich betreut, und irgendwie hatte mich das Thema auch nie so richtig losgelassen.“ Lisa Schmidberg las sich neben ihrer Arbeit im Gesundheitsamt (sie betreute zu der Zeit in der Corona-Hochphase eine neu gegründete Abteilung) immer weiter ein. „Je mehr ich mich damit befasst habe, umso mehr hat es mich geärgert, dass Cannabis in Deutschland als Behandlungsmittel so schwierig zu bekommen ist.“
Cannabis-Therapie ist in Deutschland seit 2017 erlaubt – unter Auflagen
Seit März 2017 haben laut Kassenärztlicher Bundesvereinigung „Patienten mit einer schwerwiegenden Erkrankung unter bestimmten Voraussetzungen Anspruch auf Cannabis“. Erfüllt ist der, wenn eine Standard-Behandlung ausgereizt ist und die behandelnde Ärztin beziehungsweise der behandelnde Arzt eine entsprechende Behandlung für erfolgversprechend hält. Das „Cannabis auf Rezept“ bezahlt in diesen Fällen die gesetzliche Krankenkasse.
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„Es gibt aber einen großen Haken“, sagt Lisa Schmidberg. Damit Cannabis verschrieben werden kann, muss eine realistische Chance auf Verbesserung des Krankheitsverlaufs gegeben sein. „Dafür braucht es wissenschaftliche Evidenz. Also Studien und Literatur, die Erfolg in ähnlichen Fällen belegen. Die gibt es aber kaum.“ Eigentlich ein Teufelskreis – denn Praxis schafft Theorie. Und so kommt es, erklärt die 27-Jährige, dass die Cannabis-Therapie in wenigen Fällen überhaupt erst Anwendung findet. „Die Hälfte der Anträge wird von den Krankenkassen abgelehnt. Wie viele kranke Menschen es gar nicht erst versuchen, weil ihr Arzt es ihnen ausredet, will ich gar nicht wissen.“
Mülheimer Ärztin: „Ich will möglichst vielen Menschen helfen“
In Frankfurt hat Lisa Schmidberg einen Kollegen, den Radiologen Dr. Julian Wichmann, kennengelernt. „Wir haben viel über das Thema und die Probleme gesprochen“, sagt sie. Wichmann hat Mitte 2020 die Telemedizin-Plattform „Algea Care“ gegründet, die die Patientenversorgung mit medizinischem Cannabis fernab vom Krankenkassen-System etablieren soll. Schmidberg steigt als Leiterin der medizinischen Abteilung in das Unternehmen ein. „Ich habe unser Handbuch verfasst, auf dem unsere Arbeit beruht.“ Das Wissen dafür hat sich die Speldorferin über die Jahre angelesen, „mittlerweile gibt es auch immer mehr Literatur dazu und wir forschen auch selbst viel.“
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In ihrem Team kümmert sich Lisa Schmidberg unter anderem um die Weiterbildung von Ärztinnen und Ärzten und um medizinische Gutachten. 90 Medizinerinnen und Mediziner gehören mittlerweile zum Kooperationsstamm des Unternehmens. „Wir bieten ganz viel in digitaler Form an, um es den Menschen möglichst einfach zu machen“, sagt Lisa Schmidberg. Auch wenn sie mittlerweile die Aufgaben einer Managerin übernimmt, und das auch gerne, fehlt ihr die romantische Vorstellung der ärztlichen Arbeit von früher doch ein wenig. „Manchmal erwische ich mich doch bei ein wenig Neid. Aber wenn die Kollegen von ihren Behandlungserfolgen erzählen, macht es das wirklich tausendfach wett.“
Cannabis-Therapie kommt vor allem für chronisch Kranke in Frage
Zu den Patientinnen und Patienten der „Algea Care“ zählen laut Schmidberg vor allem Menschen, die unter chronischen Schmerzen leiden. Migräne, chronisch-entzündliche Darmerkrankungen, Multiple Sklerose, Depressionen und Neurodermitis zählen zu den zahlreichen Krankheiten, die das Unternehmen als mit Cannabis-Therapie behandelbar einstuft. „Natürlich kann nicht jeder zu uns kommen und sich aus Spaß irgendwie ,Gras auf Rezept’ holen“, sagt Lisa Schmidberg und malt mit ihren Händen Gänsefüßchen in die Luft. „Wir prüfen alles sehr streng, schauen uns bisherige Diagnosen und Behandlungen an.“
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Nur wenn die Krankheitsgeschichte und der Ausschluss von schweren Kontraindikationen es zulassen, gibt es das Rezept. „Für Cannabis, nicht für Gras“, sagt die Medizinerin und schmunzelt. „Bei uns im Unternehmen sind alle Worte, die mit dem Freizeit-Gebrauch von Cannabis verbunden sind, verboten. Da bin ich ganz streng.“ Immer noch und viel zu stark sei die Behandlung mit Cannabis stigmatisiert, erklärt Schmidberg. „Viele sprechen von Nebenwirkungen und stellen sich vor, dass man komplett zugedröhnt wird.“ Die Realität sei in der medizinischen Behandlung aber eine andere. „Wir arbeiten mit genauen Dosierungen, die wir regelmäßig anpassen, und bilden die Patienten mit Blick auf Warnsignale aus.“ So ließen sich Missbrauch und Suchtpotenzial eliminieren.
Dass Lisa Schmidberg von ihrer Arbeit überzeugt ist, wird im Gespräch mit ihr deutlich. Aber muss sie sich für ihren Job vor anderen rechtfertigen? „Wenn ich sage, dass ich Ärztin bin, kommt eigentlich immer die Frage: ,In welchem Krankenhaus?’. Und wenn ich dann erzähle, was ich mache, werden die Augen immer größer.“ Rechtfertigen müsse sie sich eigentlich nie, „ich habe sämtliche Argumente auf meiner Seite“, erklärt die 27-Jährige. „Wer das verurteilt, weiß nur noch nicht genug darüber.“
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- Das Unternehmen bietet auf seiner Homepage www.algeacare.com einen Fragebogen an, der anschließend ausgewertet wird. Es folgt ein Erstgespräch mit einer oder einem der kooperierenden Ärztinnen oder Ärzte. Sind alle Bedingungen für eine Cannabis-Therapie erfüllt, startet die Behandlung unter regelmäßiger telemedizinischer Kontrolle.
- Durch Zusammenarbeit mit Versandapotheken kann das medizinische Cannabis auf Wunsch per Paket nach Hause geschickt werden. Es gibt verschiedene Formen: Kapseln, Sprays und Blüten. Die Inhaltsstoffe der Blüten werden mit einem Inhalator eingenommen. „Dabei werden die Blüten nur erhitzt, aber nicht verbrannt“, erklärt Lisa Schmidberg. „Das ist schonender und wirksamer.“
- Es gibt derzeit rund 80 verschiedene in Deutschland für die medizinische Behandlung zulässige Cannabis-Sorten. Je nach Pflanze unterscheidet sich die Wirkung. „Jemand, der depressiv ist, braucht etwas anderes als jemand mit ADHS“, so Schmidberg. Je nach Krankheitsbild erfolgt die Verschreibung und Dosierung. „Wir steigern die Dosis bei Bedarf ganz langsam, um den Körper zu gewöhnen.“
- Pro Termin zahlen die Patientinnen und Patienten etwa 80 bis 130 Euro. Folgetermine finden bei fortlaufender Behandlung durchschnittlich alle zwei Monate statt. Zusätzlich müssen die Kosten für das Präparat getragen werden, „hier sind die Preise relativ ähnlich zum Straßenverkaufspreis und liegen im Schnitt bei zehn Euro pro Gramm Cannabis“. Die benötigte Menge ist ziemlich individuell, liege im Schnitt aber bei etwa 15 Gramm im Monat, so Schmidberg.