Mülheim. Drei Jahre nach dem umstrittenen Polizeieinsatz im AZ wurde der Fall nun erneut vor dem Amtsgericht Mülheim aufgerollt. Teils mit neuen Infos.

Drei Jahre nach einem offenbar besonderen Einsatz der Polizei gegen zwei Mitarbeitende des Autonomen Zentrums (AZ), geht der Prozess gegen einen der beiden vor dem Amtsgericht Mülheim weiter. Die zweite Mitarbeiterin wurde nach einem ersten Freispruch im August 2021 unerwartet schuldig gesprochen. „Besonders“ sind die Prozesse aber schon deshalb, weil bis heute ungeklärt ist, ob das gewaltsame Durchgreifen der Polizei gegen den Beschuldigten an diesem 8. Juni 2019 überhaupt gerechtfertigt war oder gar rechtswidrig.

Ein Problem: die nach dieser Zeit massiven Erinnerungslücken der nun erneut als Zeugen vernommenen Polizistinnen und Polizisten. Das zweite Bemerkenswerte: Ermittelt wird derzeit nur in eine Richtung. Obwohl der Beschuldigte O. gegen die beteiligten Polizisten sowie einen Arzt bereits vor zwei Jahren Strafanzeige wegen Körperverletzung gestellt hatte, haben die betroffenen Polizeibeamten offenbar erst jetzt und durch die richterliche Belehrung in dem am Montagmorgen fortgesetzten Prozess davon erfahren.

Verteidigung: Es droht Verjährung für möglichen Prozess gegen Polizisten

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Warum die Staatsanwaltschaft bisher weder gegen sie noch offenbar gegen den Arzt, der dem Beschuldigten ohne richterlichen Beschluss und gegen seinen Willen Blut abgenommen haben soll, ermittelte, wurde im Verlauf des Prozesstages durch die Verteidigung zwar mehrfach hinterfragt, blieb aber unbeantwortet. „Es droht hier die Verjährung“, wendete sich die Verteidigung mit sichtbarem Unverständnis an die Staatsanwaltschaft.

Doch zurück zum Grund des Verfahrens: Am 8. Juni 2019 wurde die Polizei von einem Gast des AZ gerufen. Dieser gab an, im AZ angegriffen worden zu sein. Doch die Ermittlung der Polizei nahm schon kurz nach ihrer Ankunft eine andere Richtung. Nach übereinstimmenden Angaben der Polizeizeugen und der Mitarbeitenden forderte sie die AZ-Mitarbeiter auf, ihre Ausweise zu zeigen.

Dabei sollen sie nicht etwa selbst verdächtig gewesen sein – die Beschreibung, die der Gast vorher den Beamten mitgeteilt hatte, traf äußerlich nicht auf sie zu –, sondern sie sollen als Zeugen aufgefordert worden sein, ihre Personalien anzugeben. So gaben die Einsatzkräfte es übereinstimmend in der ersten Verhandlung im August 2020 zu Protokoll. Als diese sich weigerten, soll ihnen zunächst Zwang angedroht worden sein und schließlich schritten die Beamten mit körperlicher Gewalt zur Tat.

Hat die Polizei bei ihrem Einsatz rechtswidrig gehandelt? Sympathisanten sehen den AZ-Mitarbeiter als Opfer von Polizeigewalt.
Hat die Polizei bei ihrem Einsatz rechtswidrig gehandelt? Sympathisanten sehen den AZ-Mitarbeiter als Opfer von Polizeigewalt. © FUNKE Foto Services | Martin Möller

Haben die Polizisten womöglich rechtswidrig gehandelt?

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Die Folge des Zugriffs dokumentierten erneut Fotos von dem Beschuldigten im nun fortgeführten Prozess: zahlreiche Prellungen, Schürfwunden sowie eine genähte Wunde über der Augenbraue aufgrund eines Faustschlags durch einen Polizisten.

Angeklagt wurden die AZ-Mitarbeitenden wegen Widerstand gegen eine Diensthandlung, Beleidigung und körperlicher Tätigkeit gegen die Beamten (Wegschubsen). In der ersten Instanz hatte das Amtsgericht es zwar noch als erwiesen angesehen, dass die Polizei rechtswidrig gehandelt habe, denn da die Mitarbeitenden als „Zeugen“ betrachtet wurden, hätten die Beamten nicht mit Gewalt an die Identität kommen dürfen. Auch hätte es für die Blutabnahme wohl einer richterlichen Anweisung bedurft, wie die Verteidigung anführte – die Beamten aber unterzeichneten die Anordnung selbst.

So sprach man 2020 zunächst die AZ-Mitarbeiterin frei, ein Urteilsspruch zum Fall des Mitarbeiters hingegen blieb damals offen. Doch nachdem die Staatsanwaltschaft im August 2021 mit neuen Aussagen erfolgreich gegen die beschuldigte Frau in Berufung ging, scheint auch in der Fortsetzung der zweiten Anklage eine Wende möglich.

Polizeizeugen zeigen Erinnerungslücken bei erneuter Vernehmung

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Fünf Zeugen vernahm das Amtsgericht am Montag in einem sechsstündigen Prozess mit vielen Unterbrechungen – vier Polizistinnen und Polizisten sowie den Mann, der die Polizei am 8. Juni 2019 gerufen hatte. Erneut; denn alle Personen hatten bereits ihre Schilderungen beim ersten Prozess 2020 zu Protokoll gegeben.

Präziser wurden die geschilderten Abläufe zwei Jahre später nicht – das räumten auch die vernommenen Beamten vielfach ein. Gelegentlich allerdings schlichen sich in die Äußerungen kleine Zusätze ein, die aufhorchen ließen: So sprach nun ein Polizist von „Fantasienamen“, die angegeben worden seien – bisher hieß es, die Mitarbeitenden hätten keine Namen angegeben.

Eine Polizeizeugin gab an, man habe den Beschuldigten vor dem gewaltsamen Zugriff belehrt, dass er eine „Straftat“ begehe, wenn er sich nicht ausweise. Auch diese Aussage hatte keiner der vor zwei Jahren vernommenen Beamten – selbst die Zeugin selbst nicht – zu Protokoll gegeben. Erst auf die nachdrückliche Frage der Verteidigung sowie der Richterin selbst, räumte die Polizistin ein, sich an einen genauen Wortlaut damals nicht mehr erinnern zu können.

Gericht lehnt psychologisches Gutachten zur Glaubwürdigkeit ab

Ebenso konnte die Zeugin – obwohl sie neben dem ausführenden Polizisten stand – nicht mehr sagen, ob der „Schubser“ des Beschuldigten vor dem Zugriff oder als Reaktion auf den zupackenden Kollegen erfolgte. So blieb auch nach sechs Stunden Zeugenbefragung weiterhin ungeklärt, inwiefern der Beschuldigte sich einer legitimen Diensthandlung widersetzt hatte, wie die Verteidigung in mehrfachen Erklärungen anführte.

Auch zog die Verteidigung die Unbefangenheit der Aussagen der Beamten in Zweifel, denn einigen von ihnen könnte – sollte der Beschuldigte freigesprochen werden – im Anschluss an dieses Verfahren selbst ein Prozess unter anderem wegen Körperverletzung drohen. Die Vernehmung der Polizeizeugen in Anwesenheit eines psychologischen Gutachters jedoch lehnte die Richterin mit der Begründung ab, es sei Aufgabe des Gerichts, die Glaubwürdigkeit der Zeugen zu beurteilen. Es gebe keinen Grund, warum das Gericht dazu nicht in der Lage sei.

Fortsetzung am 12. Dezember

Die Verhandlung setzt das Mülheimer Amtsgericht an der Georgstraße 13 am 12. Dezember um 9.30 Uhr fort. Dann sollen weitere Zeugen des AZ und der Polizei vernommen werden.

Indes demonstrierte das AZ und Sympathisierende auch am vergangenen Montagmorgen erneut vor dem Amtsgericht. Die Demonstrierenden fordern den Freispruch für den AZ-Mitarbeiter sowie die Verurteilung von Polizeigewalt.